*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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3.1.3       Hierarchisierung von Märkten und Branchen: Öffnungsgrade und Protektion11

Sektorstruktur: Die Güterstruktur des Welthandels hat in den vergangenen Jahrzehnten einen tiefgreifenden Strukturwandel durchgemacht. Das dynamische Vordringen des Industriegüter- und Dienstleistungshandels ging mit einem entsprechenden Bedeutungsverlust des Handels mit Agrarprodukten von 47 Prozent (1950) auf nur noch 9Prozent des Welthandels (2000) einher (WTO 2000b). Dennoch bleiben insbesondere einige Entwicklungsländer in hohem Maße vom Agrarexport abhängig. Auch hat der wirtschaftliche Bedeutungsverlust den politischen, auf Protektion zielenden Einfluss der Agrarlobby in den wichtigsten Industrieländern kaum gemindert.

Das dynamische Element des Industriegüterhandels sind wertschöpfungs- und technologieintensive Produkte. Mit Entwicklungsländern tauschen die Industrieländer immer noch ihre technologisch anspruchvolleren Industrieprodukte gegen die arbeits- und rohstoffintensiven Erzeugnisse der Entwicklungsländer (inter-industrieller Handel). Einzelne Schwellenländer dringen jedoch bereits in typische Exportdomänen der Industrieländer vor (Beispiel: Elektrotechnik und Elektronik, Automobile) und treten verstärkt in den intra-industriellen Handel ein. In traditionellen Verbrauchsgüterindustrien wie der Textil- und Bekleidungsindustrie ist die intra-industrielle internationale Arbeitsteilung meist weniger weit vorangeschritten als in technologie- und kapitalintensiven Sektoren wie der Chemie-, Automobil- und feinmechanisch-optischen Industrie. In Zukunft ist mit einem weiter steigenden Gewicht des intra-industriellen Austauschs im Welthandel zu rechnen. Dies mindert protektionistischen Druck, da die Vor- und Nachteile der strukturellen Anpassung sich jeweils in der gleichen Branche und oftmals auch innerhalb der gleichen Unternehmen niederschlagen.

Im internationalen Dienstleistungshandel hat sich ein weitreichender Strukturwandel vollzogen12: Der Anteil der ehemals dominierenden Transportleistungen ist seit 1990 stark geschrumpft, während das Gewicht des Reisesektors zunächst kräftig zugenommen hat, aber seit 1990 auf dem erhöhten Niveau stagniert. Demgegenüber sind die „sons-tigen Dienstleistungen“ stetig und kräftig expandiert und bilden nunmehr mit Abstand den größten der drei Hauptdienstleistungssektoren. Dynamische Entwicklungsmus-ter sind vor allem bei international gehandelten Kommunikations-, Computer- und Informations-, Finanz- und Versicherungs-, persönlichen, kulturellen und Erholungsdienstleistungen sowie bei Lizenz- und Gebührenzahlungen (beispielsweise für die Nutzung von Software) festzustellen. Das Wachstumspotenzial im internationalen Dienstleistungssektor ist außerordentlich hoch einzuschätzen, zumal die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik dazu führt, dass immer mehr Dienstleistungen handelbar werden und der Abbau von Marktzugangshindernissen und Diskriminierungen ausländischer gegenüber inländischen Anbietern sowie zwischen ausländischen Anbietern aus verschiedenen Ländern gerade erst begonnen hat.

Offenheit: Seit dem Ende des 2. Weltkriegs ist eine besonders starke Öffnung der Volkswirtschaften zu beobachten. Die globale Export- und Außenhandelsquote (Anteil des Exports von Gütern und Dienstleistungen bzw. der Summe aus den entsprechenden Ex- und Importen am Bruttoinlandsprodukt) hat erheblich zugenommen und vielfach Werte von über 20 bzw. 40 Prozent erreicht. Dabei sind deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und Ländergruppen zu erkennen. In der außerordentlich hohen Export- und Außenhandels­ orientierung der Hocheinkommensländer außerhalb der    OECD kommt in erster Linie zum Ausdruck, dass es sich hierbei um kleine Volkswirtschaften handelt. Sie sind in hohem Maße auf den Außenhandel angewiesen, um ihre Ressourcen effizient nutzen und eine differenzierte Nachfrage bedienen zu können. Bei den OECD-Ländern fällt auf, dass die USA (hauptsächlich bedingt durch die Größe des Binnenmarktes) und Japan relativ geringe Offenheitsgrade aufweisen.

Besonders dynamisch ist die Entwicklung in der Asien-Pazifik-Region verlaufen. Dies gilt infolge der Hin­ wendung zur Marktwirtschaft auch für China. In Latein­ amerika verlief die Öffnung der Volkswirtschaften demgegenüber eher verhalten. In Mexiko hat allerdings das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) die (einseitig auf die USA ausgerichtete) außenwirtschaftliche Öffnung kräftig vorangetrieben. Dagegen hat sich der Offenheitsgrad der 49 ärmsten Entwicklungsländer im Laufe der letzten vier Jahrzehnte nicht wesentlich erhöht. Er schwankte vielmehr zwischen zwölf und 17 Prozent.

Während der Dienstleistungssektor in den OECD-Volkswirtschaften dominiert, liegt der internationale Dienst-leistungshandel lediglich bei weniger als einem Viertel des gesamten Welthandelvolumens. In sektoraler Hinsicht ist daher die Erstellung von Dienstleistungen insgesamt noch in wesentlich geringerem Maße dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt als die Warenproduktion. Innerhalb der verarbeitenden Industrie sind erhebliche Branchenunterschiede im Offenheitsgrad zu beobachten. Gemessen am Anteil der Importe am Inlandsmarkt (Importpenetrationsgrad) haben innerhalb der „Triade“ die USA (und Kanada) insgesamt stärker als die EU und diese stärker als Japan ihren Inlandsmarkt für auslän­ dische Industrieprodukte geöffnet (UNCTAD 1980 bis 1995). Dies gilt in erster Linie für Erzeugnisse aus Entwicklungsländern. Die stärksten Zuwächse und bei weitem höchsten Marktanteile in Industrieländern haben die Entwicklungsländer aufgrund ihrer komparativen Kos­ tenvorteile bei arbeitsintensiven Produkten mit Bekleidungserzeugnissen und Schuhen erzielt. In Nordamerika haben sie sich vor allem mit Schuhen, in Westeuropa und Japan mit Bekleidung etablieren können. Relativ hohe Marktanteile erreichen Anbieter aus Entwicklungsländern auch bei Textil- und Holzprodukten sowie bei ölerzeugnissen, in der Elektroindustrie (hier vor allem in Nordamerika) und in der Stahlindustrie (hier vor allem in Japan). Demgegenüber werden die Importmärkte der Triade für hochwertige Wirtschaftsgüter (Maschinen, Fahrzeuge) von Unternehmen aus Industrieländern beherrscht.

Der Offenheitsgrad der OECD-Industrie ist in den 90er Jahren weiter gestiegen. Der Durchschnittswert aus Exportquote (Export/Produktion) und Importpenetrationsrate (Import/Inlandsnachfrage) hat im verarbeitenden Sektor zwischen 1990 und 1998 von 19 auf 25Prozent zugenommen. Technologie- und humankapitalintensive Branchen wie die Computerindustrie und der Flugzeugbau weisen den höchsten und am schnellsten gestiegenen Offenheitsgrad auf, während arbeits- und sachkapital­ intensive Industriezweige wie z.B. die Papierverar­ beitung oder die Herstellung von Metallprodukten am unteren Ende rangieren.13 Dabei zeigen sich zugleich unterschiedliche Spezialisierungsmuster bei den Handels-partnern: Während die USA (abnehmend), Japan (verstärkt) und Großbritannien (unverändert) über komparative Vorteile in Hochtechnologiebranchen verfügen, haben sich die deutsche, französische und italienische Industrie auf Aktivitäten konzentriert, die durch ein mittleres Technologieniveau gekennzeichnet sind.14

Protektionismus: Nach Schätzungen der UNCTAD (2002: 136) könnte ein den komparativen Kostenvorteilen der Entwicklungsländer bei arbeitsintensiven Produkten entsprechender Marktzugang in die Industrieländer den Entwicklungsländern bis 2005 zu zusätzlichen Einnahmen von jährlich 700 Milliarden US-Dollar verhelfen. Dies entspricht 35 Prozent ihrer jährlichen Einnahmen bzw. 65 Prozent ihrer derzeitigen Warenexporte. Die Entwicklungszusammenarbeit der OECD-Länder beläuft sich derzeit auf 50 Milliarden US-Dollar. Allerdings ist nicht jede Ausnutzung komparativer Kostenvorteile zu begrüßen, sofern sie z.B. auf sozialer und ökologischer Ausbeutung beruht (vgl. auch Kapitel 3.5).

Die starke weltwirtschaftliche Öffnung der Volkswirtschaften ist auf die regionalen Integrationsprozesse (z.B. die Schaffung des europäischen Binnenmarktes) und auf die Erfolge beim multilateralen Abbau von Handelshemmnissen zurück zu führen. So ist es in den acht bisherigen multilateralen Handelsrunden gelungen, die handelsgewichtete Zollbelastung gewerblicher und industrieller Handelsgüter in Industriestaaten von etwa 40Prozent auf vier Prozent zu reduzieren. Die Entwicklungsländer haben sich zunehmend in das internationale Regelwerk von GATT und WTO integriert, dem – nach dem Beitritt Chinas im Dezember 2001 – nunmehr über 90 Prozent des Welthandels unterliegen. Die Liberalisierungserfolge dürfen jedoch nicht über die in erheblichem Maße fortbestehende Protektion in einzelnen Ländern und Ländergruppen wie auch bei Produkten und Produktgruppen hinwegtäuschen. So liegt das durchschnittliche gewogene Zollniveau heute zwar bei acht Prozent (in den Industrieländern bei acht Prozent und in den Entwicklungsländern bei 13 Prozent).15 Weit höher ist die durchschnittliche tarifäre Protek­ tion jedoch in einzelnen, vor allem in den ärmsten Entwick­ lungsländern. Zudem werden Agrarprodukte erheblich stärker tarifär geschützt (27 Prozent), Industrieprodukte dagegen mit „nur“ sieben Prozent. Dabei und bei der weiteren Darstellung der Problemlage gilt es zu beachten, dass die Zölle in vielen Entwicklungsländern eine nicht zu unterschätzende – ja zum Teil unverzichtbare – Funktion für die Staatseinnahmen und damit für die Finanzierung des staatlichen Verwaltungsapparates spielen. Zölle sind oft die einzige gewichtige Ersatzeinnahmequelle anstelle    nicht funktionierender bzw. nicht vorhandener Steuersys-teme. Es besteht die Gefahr, dass fehlende Zolleinnahmen in einzelnen Ländern die Bereitschaft zur Korruption von Staatsbeamten bewirken oder fördern können. Der Abbau von Zöllen ist deshalb in diesen Ländern an die Entwicklung anderer zuverlässiger und rechtlich abgesicherter Staatseinnahmen zu koppeln.

Sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern werden einzelne landwirtschaftliche und industrielle Erzeugnisse z. T. sehr hohen Zöllen (Tariff Peaks) unterworfen. Auch steigen die Abgaben mit zunehmendem Verarbeitungsgrad (Tariff Escalation) und behindern so Export- und Diversifizierungsbemühungen besonders von Entwicklungsländern.

Entwicklungsländer sehen sich auf den Industrieländermärkten einer deutlich höheren Zollbelastung bei Verarbeitungserzeugnissen gegenüber als Industrieländer (3,4 Prozent gegenüber 2,0 Prozent). Sie selbst schützen sich mit über viermal höheren Industriegüter-Zöllen, wovon der Süd-Handel (zwölf Prozent) noch stärker betroffen ist als die Exporte der Industrieländer (elf Prozent). Besonders stark richtet sich diese Protektion gegen die Exportbemühungen von LDC (14 Prozent). Die tarifäre Belastung einzelner Ländergruppen ist im Agrarhandel weit weniger differenziert. Agrarexporte der LDC haben allerdings sowohl in Industrie- als auch in anderen Entwicklungsländern niedrigere tarifäre Barrieren zu überwinden (16 bzw. 17 Prozent) als ihre Konkurrenten.

Der fortschreitenden Kompensation der tarifären durch nicht-tarifäre Protektion wurde zwar – besonders in der Uruguay-Runde – mit neuen Regeln begegnet. Quoten, Subventionen, Selbstbeschränkungsabkommen, Anti-Dumping-Verfahren, Standards, Zollverfahren und Schutz­ klauseln stellen jedoch nach wie vor eine starke Belastung des Welthandels dar. In Entwicklungsländern haben nichttarifäre Handelsschranken insgesamt ein höheres Gewicht als in Industrieländern. In Industrieländern wird vor allem der Textil- und Bekleidungssektor nach wie vor durch    nichttarifäre Handelshemmnisse stark geschützt.16 Anti-Dumping-Verfahren haben stark zugenommen – sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern (1958: 37; 1995–99: 1218 Fälle) (IWF/Weltbank 2001: 28f.). Eine Quelle immer wieder aufflammender Handelsstreitigkeiten sind die NTB (Non-tariff Barriers of Trade) im Agrarbereich. Zwar wurde in der Uruguay-Runde ein wichtiger Schritt zur Eingrenzung des Problems unternommen, die Wirkungen blieben bisher jedoch eher bescheiden. Subventionen und sonstige Stützungsmaßnahmen der Landwirtschaft in den Indus­ trie­ ländern werden auf mehr als das Fünffache der gesamten jährlichen Entwicklungshilfe geschätzt (Weltbank 2002a: 47). Die restriktiven Wirkungen der tarifären und nicht-tarifären Protektion werden durch die zahlreichen Zollpräferenzen, die die Industrieländer den Entwicklungsländern seit Jahrzehnten einseitig gewähren, nur teilweise gemildert.

Trotz großer methodischer Probleme, die Protektion im internationalen Dienstleistungsverkehr zu erfassen, ist davon auszugehen, dass sowohl in Industrie- als auch in Entwicklungsländern erhebliche Handelsbeschränkungen bestehen (IWF/Weltbank 2001). Der Anteil liberalisierter Dienstleistungen, bei denen keine Beschränkungen des Marktzugangs und der Inlandsbehandlung (National Treatment) bestehen, liegt in den Hocheinkommensländern lediglich bei einem Viertel und in den übrigen Ländern bei weniger als zehn Prozent (OECD 2001d: 81).



11 Der wissenschaftliche Input zu diesem entstammt zum überwiegenden Teil dem Gutachten von Borrmann, Jungnickel, Koopmann (2002).

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12 Vgl. dazu auch Enquete-Kommission „Globalisierung“ (2001c: 51 ff.).

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13 Untypisch ist die Entwicklung der Textil- und Bekleidungsindustrie, die nach diesen Kriterien eher im unteren Bereich zu vermuten wäre, tatsächlich aber zu den am stärksten exportorientierten Branchen zählt.

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14 Insbesondere in den Hochtechnologiebranchen (Luft- und Raumfahrt, Pharma, Computertechnik, Kommunikationstechnik und Feinmechanik) ist die Exportintensität deutlich stärker gestiegen als in den übrigen Industrien.

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15 Vgl. dazu und zu den folgenden Abschnitten IWF/Weltbank 2001.

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16 Zwar wurde in der Uruguay-Runde das Auslaufen des Multi-Faser- Abkommens im Jahr 2005 beschlossen, jedoch wird eine Fortsetzung der Protektion mit anderen Mitteln befürchtet (Anti-Dumping, technische Hemmnisse) (IWF/Weltbank 2001: 27).

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