*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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6             Geschlechtergerechtigkeit1, 2

   6.1          Geschlechtergerechtigkeit in der Globalisierung

Der Globalisierungsprozess ist von Ungleichzeitigkeiten und unterschiedlichen Perspektiven gekennzeichnet. Eine Analyse, die Globalisierung als unabwendbares Schicksal darstellt und deren Folgen auf Ausgrenzungsprozesse reduziert, wird den Widersprüchlichkeiten und Brüchen in veränderten Arbeits- und Lebensverhältnissen ebenso wenig gerecht, wie eine Beschreibung, die nur die Chancen der zukünftigen Entwicklung thematisiert.

Diese ambivalente Bewertung trifft auch zu, wo Globalisierung aus der Sicht der Geschlechterverhältnisse analysiert wird. Diese beschreiben keineswegs ein homogen-dua­ listisches Verhältnis, bei dem alle Frauen Verliererinnen und alle Männer Gewinner sind. Vielmehr ist ein differenziertes Verständnis der globalen Zusammenhänge unerlässlich, da Geschlecht, Klasse und Ethnizität in einer komplexen Wechselwirkung zueinander stehen. Zum Beispiel wirkt sich die Globalisierung auf eine Angestellte im Bankensektor im mittleren Management anders aus als auf die Migrantin aus Polen oder den Philippinen, die in deren Haushalt arbeitet. Andererseits zeigen sich gerade in der Geschlechterfrage die Bedeutung der individuellen Entscheidungen für Lebensmodelle, Berufswege und politische Partizipation.

Die Auffassung, dass besonders die ökonomische Globalisierung ein widersprüchlicher Prozess ist, wird von einem Großteil der Fachliteratur bestätigt. Die Globalisierung bietet neue Optionen und Chancen, enthält aber gleichzeitig auch neue Risiken für marginalisierte Gruppen, die lediglich über einen eingeschränkten Zugang zu ökonomischen Ressourcen, zu Wissen und Qualifikationen sowie zu Macht und Entscheidungspositionen verfügen. Viel zu wenig präsent im öffentlichen Bewusstsein ist dabei die Tatsache, dass bei den Widersprüchlichkeiten und Ungleichzeitigkeiten der Globalisierungsprozesse Geschlechterverhältnisse eine herausgehobene Rolle spielen. Zur Veranschaulichung von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten werden in Kapitel 6.1.1 die beiden im UN-System akzeptierten Geschlechterindizes, die das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) entwickelt hat, vorgestellt. Auch das UN-Konzept der „menschlichen Sicherheit“ (Human security) hat zum Ziel, Unsicherheiten und Ungleichheiten in der sozialen und individuellen Versorgung im Kontext der ökonomischen Globalisierung zu bewerten (vgl. Kapitel 6.2.3).

Die Wechselwirkungen von Globalisierung und Geschlechterverhältnisse können in dreifacher Hinsicht beschrieben werden (Ruppert 2002).

Erstens wirkt Globalisierung zum Teil sehr ungleich auf die konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Frauen und Männern, wodurch insbesondere viele arme Frauen in Entwicklungsländern Gefahr laufen, sowohl kurz- als auch langfristig eher zu den Verliererinnen der Globalisierung zu zählen. Darüber hinaus basiert Globalisierung zweitens auf geschlechtlichen Ungleichheiten, die den Auswirkungen von Globalisierung gleichsam vo­ rausgehen (vgl. Kapitel 6.2.1). Drittens verändert Globalisierung aber auch bestehende Geschlechterarrangements. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn sich neue Formen der Arbeitsteilung abzuzeichnen beginnen oder wenn die Auswirkungen der internationalen Finanzkrisen auf Armutsmigration, Menschenschmuggel und Zwangsprostitution analysiert werden (vgl. Kapitel 6.2.2 und 6.2.4).

Damit birgt die Globalisierung einerseits für viele Frauen das Risiko, dass strukturelle Benachteiligungen für die einen weiter zunehmen. Andererseits kann Globalisierung in dem Maße, wie sie zu gesellschaftlicher Veränderung beiträgt, auch neue Chancen politischer Mitgestaltung für Frauen und neue Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung hin zu mehr Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern eröffnen. Ein wichtiges Instrument ist in diesem Kontext die seit der 4. UN-Weltfrauenkonferenz in Peking allgemein akzeptierte Strategie des „Gender Mainstreaming“ (vgl. Kapitel 6.3).

Der vorliegende Text greift zentrale Fragestellungen dieser komplexen Thematik auf. Diese müssten vertieft werden. Es wäre deshalb über die Notwendigkeit nachzudenken, diese vielfältigen Zusammenhänge in einer eigenen Bundesstiftung „Geschlechterdemokratie“ in Analogie zur Stiftung „Frieden und Entwicklung“ im internationalen Kontext zu erforschen.



1 Das vorliegende „Geschlechtergerechtigkeit“ stellt ein Querschnittskapitel dar. Themenspezifische Vertiefungen finden sich insbesondere auch im Kapitel 2 (Finanzmärkte), Kapitel 4 (Arbeitsmärkte), Kapitel 5 (Globale Wissensgesellschaft) und Kapitel 10 (Global Governance).

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2 Der vorliegende Berichtsteil wurde im Konsens verabschiedet. Vgl. dabei auch den Kommentar der CDU/CSU-Fraktion in Kapitel 11.1.7.5.

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