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Andrea Dunai
Das schwere Erbe der Kadar-Ära
Ungarische Spitzel und Führungsoffiziere im
Rampenlicht
Die politischen Parteien Ungarns haben im Herbst
2004 feierlich ihre Absicht verkündet, die
uneingeschränkte Zugänglichkeit der Spitzel-Akten
gesetzlich zu regeln, um Licht in die vertuschte Angelegenheit um
den Staatssicherheitsdienst des früheren Regimes zu bringen.
Die Öffentlichkeit und insbesondere die Wissenschaftler
rätselten zwar über den wahren Inhalt der in Aussicht
gestellten "transparenten Aufarbeitung" und "ungehinderten
Veröffentlichung der Forschungsergebnisse", nahmen jedoch die
Nachricht mit Genugtuung auf. Die Initiative der führenden
sozialliberalen Koalition machte Furore.
Die Tatsache, dass das groß
angekündigte Vorhaben ein Jahr vor den nächsten Wahlen in
Angriff genommen wird und somit den Wahlkampf womöglich gar
nicht beeinflussen wird, hat trotz den gängigen politischen
Spielregeln keine leidenschaftliche Polemik ausgelöst. Allen
Anzeichen nach haben die Bürgerinnen und Bürger des
Landes eine abwartende Haltung eingenommen. Doch die Scheinruhe hat
sich als trügerisch erwiesen.
Am 27. Februar 2005 veröffentlichte das
Forschungsinstitut "Political Capital" im Internet eine Liste der
früheren Agenten des ehemaligen ungarischen
Staatssicherheitsdienstes. Bereits am ersten Tag besuchten rund
200.000 Interessierte die Website. Das Verzeichnis enthielt 19
bereits bekannten Namen von IMs. Einige Tage später erschien
auf der Webseite von Lycos eine andere Liste (von unbekannten
Autoren) mit mehr als 200 Spitzel-Namen, die mehrheitlich bis dahin
nicht bekannt waren. Bezeichnend für diese vermeintlichen
Agenten war, dass fast alle von ihnen nach 1990 eine bedeutende
Rolle im politischen und gesellschaftlichen Leben sowie in den
Medien des Landes spielten. Die Gliederung der mit Schreibmaschine
getippten Namen war diesmal transparent: Mitglieder der 1987 - 1989
gegründeten politischen Parteien sowie von
Kirchenvorständen. Angeblich handelte es sich um jene
"Agentenliste", die der letzte kommunistische Regierungschef,
Miklós Németh, dem ersten demokratisch gewählten
Premier, József Antall, überreicht haben sollte. Auf
Fragen der Journalisten antwortete Németh mit einem
merkwürdigen "ich kann mich nicht mehr daran erinnern",
während der Sohn des verstorbenen Antall mit einer bejahenden
Version herausrückte: "Ja, seinerseits hat mir mein Vater eine
ähnlich aussehende Liste gezeigt." Wieso dieses
Staatsgeheimnis zum Familiengut wurde, wirft weitere Fragen
auf.
Damals sollten angeblich alle politischen
Parteien im Besitz ähnlicher Listen gewesen sein.
1997 wurde zum Zwecke der Verwaltung der
Akten das so genannte Historische Amt gegründet, das jedoch
ursprünglich nur über den Nachlass der Abteilung
III./III. ("Kampf gegen die innere Reaktion") verfügte,
während die Materialien der zivilen und militärischen
Geheimdienste bei deren Nachfolgeorganisationen verblieben, welche
die junge Demokratie übernahm. In die geschwärzten Akten
des Historischen Amtes konnten Bürger Einsicht beantragen, die
"reinen" Dokumente erhielten aber nur Wissenschaftler, wobei nicht
ganz klar war, was sie davon veröffentlichen durften.
Außerdem gab es offensichtlich verbotenerweise Privatarchive,
deren Akten von Zeit zu Zeit gegen den jeweiligen politischen Feind
eingesetzt wurden.
Kurz nach den Wahlen 2002 entlarvte eine
Zeitung Ministerpräsidenten Medgyessy als ehemaligen, in der
Finanzverwaltung des Landes tätigen Geheimoffizier "Nr.
D-209". Als "Gegenschlag" gaben die Aktenkenner bekannt, dass der
Vater des leidenschaftlichen antikommunistischen
Oppositionspolitikers Pokorny ebenfalls Informant des
Staatssicherheitsdienstes war. Erst jetzt reifte der Entschluss,
die Geheimakten in einem "Archiv der ehemaligen
Staatssicherheitsdienste" zu vereinigen, in das schließlich
auch Dokumente der ehemaligen Auslandsdienste und die "vergessenen"
operativen Akten der 80er-Jahre einbezogen wurden. Über diese
heikle Übergabe-Aktion sollte eine dreiköpfige
Historikerkommission entscheiden.
Die Aufarbeitung der ungarischen
jüngeren Vergangenheit litt und leidet unter großen
finanziellen und fachlichen Mängeln. Wichtiger aber war, dass
die Zielsetzungen und der gesetzliche Rahmen dieser Tätigkeit
nicht eindeutig definiert worden sind.
Die Schockwirkung nach der
Veröffentlichung der Agenten-Listen ließ nicht lange auf
sich warten. Es folgten einige öffentliche Geständnisse
sowie heftige Proteste. Viele zogen die Echtheit der Dokumente
teilweise oder ganz in Zweifel. In der Tat zeigen diese kein
einheitliches Bild. Einige Namen konnten in der Zeit der
angeblichen Entstehung nicht mehr auf der Liste stehen, da ihre
Träger zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben oder damals
schlicht zu alt waren. Gleichzeitig fehlten Namen, bei denen in der
Zwischenzeit einigermaßen plausibel ein Kontakt zur
Staatssicherheit nachgewiesen werden konnte. Der Hauptfehler des
Konvoluts bestand aber darin, dass es keine Berichte oder
Erklärungen zur Zusammenarbeit lieferte. Seriöser und
bisher von niemandem angezweifelt ist dem gegenüber eine
parallel publizierte Aufzeichnung der Führungsoffiziere in der
Wochenzeitschrift HVG.
Die Produzenten dieser Listen setzten mit
einer enormen Geschwindigkeit ihre Arbeit fort, was auch
prinzipielle Einwände nach sich zog. Anfang März
ließ der Ombudsmann für Datenschutz, Attila
Péterfalvi, eine aus 1.000 Namen bestehende Liste, welche das
Team von "Political Capital" bei ihm zur Genehmigung einreichte,
öffentlich einstampfen - eine Geste, die angesichts der
zahllos kursierenden Kopien eher von symbolischer Bedeutung war.
Dafür sorgte die Angelegenheit für politische
Kollisionen. So griff die populäre Fernsehjournalistin Katalin
Szegvári in der Tageszeitung "Népszabadság" in einem
offenen Brief den Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány
an. Sie spielte wenig geschmackvoll auf die kommunistische
Verwandtschaft von Gyurcsány an und behauptete, seinerzeit
nach ihren Westreisen in den Berichten "nur
Nebensächlichkeiten"" zu Papier gebracht und damit niemandem
geschadet zu haben. Wer und wann aber diese Berichte bestellt hatte
und was sie doch beinhalteten, in welcher Form sie überreicht
wurden, darüber schwieg sie taktvoll. Viele rechtfertigen sich
mit der Behauptung, dass man als Reisekader regelmäßig in
Kontakt mit den Sicherheitsorganen stehen musste.
Die bisherigen Bekenntnisse und Reaktionen
sind ohnehin weit von den wirklichen Relationen entfernt. Der
Historiker László Varga hat 1995 die letzten Protokolle
des Innenministeriums gründlich ausgewertet und in einer
Studie veröffentlicht. Das darin gezeichnete Bild ist
erschreckend: Selbst in den letzten Stunden des Regimes 1989 waren
in dem operativen Register 164.900 Namen von zu observierenden
Personen erfasst. Direkt beobachtet wurden von ihnen die Vertreter
der neuen und als legal geltenden Organisationen, auf die an die
8.000 Spitzel angesetzt waren. Darüber hinaus behauptet Varga,
dass 95 Prozent der damaligen Informanten keinerlei Druck oder
Nötigung ausgesetzt und 22,5 Prozent von ihnen Mitglied der
Staatspartei waren. Damit wird unter anderem eine alte Legende
Lügen gestraft, der entsprechend die "Firma" (im ungarischen
Jargon: "das Netzwerk") kein Recht hatte, einen Genossen
anzuwerben. Geradezu grotesk mutet an, dass der ungarische
Staatsicherheitsdienst im Juni 1989 über 812 Treff- und 248
konspirative Wohnungen verfügte. (Bei der ersten Kategorie
handelt es sich um Wohnungen mit Hauptmieter als Mitwisser, bei der
zweiten um Eigentumswohnungen der "Firma".)
Wir haben es also mit einer Vernetzung zu
tun, die nicht zuletzt die großen Kirchen betraf. Der Anteil
der IMs in der katholischen und in den reformierten Kirchen wird
von manchen Forschern auf 20 Prozent geschätzt. In einer
Delegation zu einer katholischen Weltkonferenz waren beispielsweise
neun von 16 Mitgliedern zur Berichterstattung bei der
Staatssicherheit verpflichtet. Manche ehemalige Kirchenspitzel sind
heute hohe Würdenträger und legten während des
letzten Wahlkampfes eine ebenso eifrige Loyalität zugunsten
der rechten Parteien an den Tag, wie früher gegenüber der
KP.
Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány
bezeichnete die Verbreitung der suspekten Listen als
"schändlich" und "niederträchtig". Er forderte, in die
Zukunft statt in die Vergangenheit zu schauen, denn das Land
brauche eine neue Politik, ein erneuertes Ungarn. Diese schöne
Phrase lässt auf einen vorsichtigen Rückzieher
schließen, als hätte er das Licht lieber wieder in eine
Dunkelkammer verbannt. Die neue Version in Hinblick auf das neue
Gesetz lautet ungefähr so: Zugänglich gemacht und
veröffentlicht können nur diejenigen Akten werden, die
bereits dem Archiv übergeben wurden und gegen die im Auftrag
der jetzigen Staatsischerheitsbehörde das Oberste Gericht kein
Verbotsverfahren einleitet.
Der Widerstand der eigenen Parteibasis -
teilweise Funktionäre der älteren Generation,
Intellektuelle der Ära Kádár und nicht zuletzt Leute
des jetzigen Geheimdienstes - erwies sich also als
überraschend massiv. Die Versäumnisse von vier
Nachwende-Regierungen lassen sich nicht in einem Willensakt
gutmachen.
Die quasi verbotenen Webseiten erfreuen sich
großen Interesses, das, bösen Zungen zufolge, dasjenige
für Pornografie übertrifft. Um die aufgeregten Fragen zu
beantworten, hatte die Tageszeitung "Népszabadság" am 13.
März eine Expertenrunde einberufen, die aus dem Leiter des
"Political Capital", Zoltán Somogyi, und dessen
Haushistoriker, Krisztián Ungváry, bestand. Die beiden
Herren saßen stundenlang an den Computern und Telefonapparaten
der Redaktion und versuchten, dem erregten Publikum
verständliche Antworten zu geben.
Gefragt sind Historiker - unabhängig von
dem bisher unklaren Ausgang der Affäre. Sie müssen die
mysteriösen Listen in mühseliger Kleinarbeit akribisch
mit den vorhandenen Dokumenten vergleichen. Und schließlich
sollten sie dazu beitragen, dass an die Stelle von Emotionen und
Skandalisierungen die Vernunft tritt. Besonnenheit würde die
Wartezeit auf das versprochene Gesetz etwas angenehmer
gestalten.
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