Johanna Metz
Entspannung mit Spannung erwartet
Damals ...vor 35 Jahren am 20. März:
Bundeskanzler Willy Brandt berichtet im Bundestag über seinen
Besuch in Erfurt
Die Uhr im Plenarsaal schlug zehn, als Bundeskanzler Willy
Brandt an das Rednerpult trat. Der Raum war erfüllt vom Surren
der Fernsehkameras und dem Raunen der zahlreich erschienenen
Journalisten, Abgeordneten und Gäste. Auf der Regierungsbank
hatte sich das gesamte Kabinett eingefunden. Voller Erwartung
harrte man Brandts Bericht über seine Reise auf die andere
Seite der Mauer.
Erst am Morgen war der Kanzler aus Erfurt zurück-gekehrt,
wo ihn der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, am
Vortag empfangen hatte. Erstmals seit der Teilung Deutschlands vor
25 Jahren hatten sich die Regierungschefs beider Staaten getroffen,
um über die Normalisierung der Beziehungen ihrer Länder
zu sprechen.
Brandts Besuch hatte in Ost und West für ordentlich Wirbel
gesorgt - und auf der Stirn manch eines DDR-Funktionärs
für die eine oder andere Schweißperle. 2.500 Menschen
hatten sich nämlich vor dem Hotel "Erfurter Hof" versammelt
und den Kanzler mit frenetischen "Willy! Willy!"-Sprechchören
bewogen, ans Fenster zu treten und zu winken. Die Journalistin
Regine Sylvester erinnerte sich später an die Szenerie:
"Sicherheitskräfte und aufgeschreckte Kampfreserven der Partei
schoben sich zwischen die Leute und setzten zu einer eilig
erfundenen Gegenparole an: 'Willi Stoph ans Fenster!' Das
DDR-Fernsehen zoomte verzweifelt, um in der Menge die mit dem
richtigen Ruf zu finden." Ein DDR-Kommentator behauptete am Abend,
die vermeintlichen Demonstranten seien "offensichtlich bestellte
Provokateure" gewesen, die den Auftakt der Gespräche
hätten stören wollen.
Viel störender jedoch war die Tatsache, dass Brandt und
Stoph ihr Verhandlungssäckel jeweils mit sehr
unterschiedlichen Forderungen geschnürt hatten. Während
Willy (West) angereist war, um einen gegenseitigen Gewaltverzicht
und "eine vertraglich vereinbarte Zusammenarbeit auf der Grundlage
der Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung" zu verabreden,
verlangte Willi (Ost) nichts Geringeres als die
völkerrechtliche Anerkennung der DDR.
Brandt wies dieses Anliegen zurück und begründete dies
vor dem Bundestag: "Ich halte daran fest, dass die beiden Staaten
in Deutschland füreinander nicht einfach Ausland sein
können." Es müsse alles vermieden werden, was
"endgültig die Möglichkeit verbauen würde, dass das
deutsche Volk sich eines Tages im Rahmen einer europäischen
Friedensordnung in freier Selbstbestimmung über die politische
Art seines Zusammenlebens entscheiden könnte".
Während der Fraktionsvorsitzende der Liberalen, Wolfgang
Mischnik, den Kanzler ausdrücklich ermutigte, den begonnenen
Weg beharrlich fortzusetzen, wollte die Opposition die Brandtsche
Kröte nicht einfach schlucken. Sie sah die Wiedervereinigung
Deutschlands durch mögliche Zugeständnisse der
sozialliberalen Koalition gefährdet und warf der Regierung
vor, von der DDR zu wenig Gegenleistungen zu verlangen. Rainer
Barzel, der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, attackierte Brandt
und seine Entspannungspolitik mit Nachdruck: "Sehen wir es
richtig", fragte er bissig, "dass die Regierung auf dem Wege ist,
die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen, besondere Beziehungen zur
DDR herzustellen, welche Merkmale einer Anerkennung enthalten, der
Sowjetunion gegenüber neue Verpflichtungen einzugehen und zwei
deutsche Staaten zu Mitgliedern der UNO zu machen?" Dabei
könne es doch lediglich um ein "Respektieren im Sinne von
Verzicht auf das Mittel der Gewalt bei Aufrechterhaltung des Zieles
der Veränderung" gehen, bohrte Barzel weiter. Ein
Gewaltverzichtsabkommen zwischen Bonn und Ost-Berlin aber lehne er
solange ab, wie "an der Mauer in Berlin und entlang der
Demarkationslinie weiter geschossen" werde.
Doch sah es nach Erfurt gar nicht so aus, als ob der
deutsch-deutsche Dialog an Schwung gewinnen würde. Das
Gespräch zwischen Brandt und Stoph blieb ohne Ergebnis,
genauso wie das nächste Treffen im Mai 1970 in Kassel.
Brandt aber verbreitete im Bundestag trotz der offensichtlichen
Differenzen verhaltenen Optimismus: "Die Reise nach Erfurt war
richtig, sie war notwendig und sie war nützlich. Niemand
konnte erwarten, dass eine Annäherung der Standpunkte erreicht
werden könnte."
Erst mit dem Grundlagenvertrag von 1972 erkannten beide Staaten
ihre jeweilige Staatlichkeit und Selbständigkeit auf Basis
gutnachbarlicher Beziehungen an. Besonders die vereinbarten
Reiseerleichterungen zeigten schnell Wirkung: In den ersten Jahren
nach Abschluss des bedeutenden Staatsvertrages stieg der
innerdeutsche Reiseverkehr sprunghaft an.
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