2.2.3 Ist
die Dynamik der Finanzmärkte eine Folge hoher
Realzinsen?10
Die
außerordentlich dynamische Entwicklung der globalen
Finanzmärkte hat auch dadurch Impulse erhalten, dass
spätestens seit Beginn der 80er Jahre die Realzinsen über
den realen Wachstumsraten des BIP liegen. Dies lässt sich
Datenreihen der OECD entnehmen, dies wird aber vor allem durch die
Gutachten, die von der Enquete-Kommission zu dieser Frage in
Auftrag gegeben wurden, bestätigt – auch wenn die
Ursachenanalyse und die Schlussfolgerungen höchst kontrovers
sind. Der Sachverhalt als solcher scheint unbestreitbar zu
sein.
Der
Sachverhalt
Wir verwenden
hier zur Illustration zunächst die Datenreihen von Prof. David
Felix (2002), die ein Muster erkennen lassen, das Felix zu einer
Phaseneinteilung der Entwicklung seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs (bzw. seit dem Bretton Woods-Abkommen von 1944)
heranzieht: So lange das Fixkurs-System von Bretton Woods
funktionierte, lagen die Realzinsen unter der realen Wachstumsrate des BIP.
Seit der Liberalisierung der internationalen Kapitalmärkte
stieg das Niveau der Realzinsen über das der Zuwachsrate des
BIP. Dies lässt sich sowohl für das Verhältnis der
langfristigen als auch der kurzfristigen Realzinsen zum BIP
zeigen.
Wenn die 90er
Jahre differenziert betrachtet würden, könnte gezeigt
werden, dass in der zweiten Hälfte der Abstand zwischen
Wachstumsrate des BIP und Realzinsen schrumpfte und in den USA
sogar – möglicherweise als Folge des „New
Economy-Booms“ – die reale Wachstumsrate des BIP
über dem Realzinssatz lag. Dies hat sich
allerdings zwischenzeitlich
infolge der ökonomischen Stagnation korrigiert. Daten für
die Entwicklungsländer liegen nur sporadisch vor, so dass dazu
stichhaltige Aussagen nicht gemacht werden können. Doch gibt
es plausible Indizien dafür, dass auch in den
Entwicklungsländern die Realzinsen sehr hoch waren und sind
(wegen des hohen Aufschlags auf den Referenzzinssatz LIBOR von
manchmal mehreren tausend Basispunkten).
Auch in dem Gutachten, das die
Enquete-Kommission von Prof. Dr. Jürgen von Hagen und Dr.
Boris Hofmann (2002) eingeholt hat, wird gezeigt, dass die
Realzinsen oberhalb der realen Wachstumsrate des BIP liegen.
Allerdings sehen die Verfasser im Unterschied zu Felix darin
„kein(en) Anlass zur Besorgnis“, ja sie halten eine
solche Konstellation für „wünschenswert, da damit
dynamische Effizienz der Volkswirtschaft indiziert ist“
(Hagen, Hofmann 2002: 25). Realzinsen niedriger als die reale
Wachstumsrate sei „auf Dauer nicht möglich. Sowohl
für den Privatsektor als auch für den Staat würde
dadurch nämlich ein enormer Anreiz entstehen, sich zu
verschulden“ (Hagen, Hofmann 2002: 23). Dieses Argument
dürfte freilich wenig stichhaltig sein, da Zinsen,
gleichgültig ob sie hoch oder niedrig sind, immer auf
Geldvermögen gezahlt werden und Geldvermögen
saldenmechanisch gleich hohe Schulden implizieren. Allerdings ist
es unbestreitbar, dass die Höhe der (Real)zinsen für die
Selektion von Schuldnern entscheidend ist. Nur haben die
Finanzkrisen des vergangenen Jahrzehnts (vgl. hierzu Kapitel 3.1) auch gezeigt, dass hohe Realzinsen keine
Garantie für effiziente Mittelverwendung durch Schuldner
sind.
Messprobleme
Ein großes Problem ist die Messung von
Realzinsen. In der Regel wird der reale Zinssatz „definiert
als der um die erwartete Inflation im entsprechenden Zeitraum
bereinigte nominale Zinssatz“ (Europäische Zentralbank
2001: 20). Je länger der Zeitraum, desto ungewisser die
Inflationserwartungen. Bei kurzfristigen Zinsen kann die aktuelle
Inflationsrate (Steigerung der Verbraucherpreise) zugrunde gelegt
werden. Langfristige Inflationserwartungen können nur
geschätzt werden (zu verschiedenen Verfahren vgl. Hagen,
Hofmann 2002; Europäische Zentralbank 2001: 20ff.; Deutsche
Bundesbank 2001: 33). Trotz dieser Messprobleme ist es notwendig,
über absolute und relative Größenordnungen und
Entwicklungstendenzen Informationen zu bekommen, denn
„Realzinsen können als Messgröße des realen
Ertrags einer Anlage oder der realen Finanzierungskosten
interpretiert werden“ (Europäische Zentralbank 2001:
20). Die Bundesbank ihrerseits schreibt: „Die Höhe der
realen Zinsen ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung
der Konjunktur und das langfristige Wachstum einer
Volkswirtschaft“ (Deutsche Bundesbank 2001: 47).
Wir betrachten zunächst das
Verhältnis der Realzinsen zur realen Wachstumsrate des BIP.
Auf jeden Fall unproblematisch sind Realzinssätze oberhalb der
BIP-Wachstumsrate, wenn der Bestand an Geldvermögen (in einer
geschlossenen Wirtschaft), auf den die Zinsen bezogen werden,
gering ist. Dann kann es sein, dass auf Realzinsen ein geringer
Teil des Zuwachses des BIP entfällt und ein entsprechend
großer auf Kontrakteinkommen und Unternehmensgewinne, so dass
die Kapitalrendite – je nach Größe des
Kapitalstocks –hoch sein kann. Allerdings darf die Dynamik
dieser Konstellation nicht aus den Augen verloren werden.
Höhere Realzinsen als die Wachstumsraten des BIP sind
gleichbedeutend mit einem über dem BIP-Wachstum liegenden
Zuwachs der Geldvermögen (ceteris paribus). Saldenmechanisch
spiegelbildlich bedeutet diese Konstellation für Schuldner,
dass der Anteil des BIP, der für den Schuldendienst
aufgebracht werden muss, zunimmt. In der Tendenz also üben die
hohen Realzinsen einen Druck auf Einkommen der Arbeitnehmer wie der
Unternehmer (auf Löhne und Profite) aus. Diese Situation wird
als „Financial Repression“ bezeichnet. Allerdings
müssen hier Differenzierungen vorgenommen werden. Die
Saldierung von Geldvermögen und Verbindlichkeiten ergibt in
Deutschland Ende 1999 bei den Haushalten einen Netto-Bestand von
2,14 Billionen Euro. Die nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften
haben Netto-Verbindlichkeiten in Höhe von 1,45 Billionen Euro,
der Staat in der Höhe von 0,84 Billionen Euro (Deutsche
Bundesbank 2000). Die Salden von Geldvermögen und
Verbindlichkeiten für die Finanziellen Sektoren sind gering.
Von hohen Realzinsen profitieren also die Haushalte
(ungleichmäßig), der Sektor nichtfinanzieller
Kapitalgesellschaften wird dadurch belastet.
Dass sich daraus Konsequenzen für das
Unternehmens management ergeben, ist gemäß der von
David Felix (2002) diskutierten
„Effizienzmarkt-Hypothese“ beabsichtigt.
Zurückhaltung bei Investitionen wegen hoher Kapitalkos
ten kann ein Effekt sein. Ein anderer wären verstärkte
Tendenzen zur Eigenfinanzierung, der Begebung von Anleihen an
Stelle der Kreditfinanzierung und des Übergangs zu Shareholder
Value-Konzepten. Darauf kommen wir zurück.
Die Verteilungswirkung hoher Realzinsen ist
in der Tendenz regressiv. Wegen der rasanten Steigerung der
Geldvermögen und der damit steigenden Zinsansprüche aus
Geldvermögen verengt sich der Spielraum der Verteilung
zwischen Lohn- und Gehaltseinkommen und Kapitaleinkünften. Die
Konstellation hoher Realzinsen ist also auf jeden Fall in ihren
Konsequenzen für die Verteilung und Verteilungspolitik zu
reflektieren.
Der Umschwung in den 70er Jahren
Welches sind die Gründe für den
Umschwung in der 70er Jahren zu der Konstellation von Realzinsen
oberhalb der Wachstumsrate des BIP? Die Antwort von David Felix
(2001), dass dies vor allem eine Folge des Zusammenbruchs des
Bretton Woods-Systems sei, ist unbefriedigend. Denn dieser
Zusammenbruch bedarf seinerseits der Erklärung. Die OECD hat
sich dieser Frage nach den Ursachen hoher Realzinsen schon vor
geraumer Zeit gewidmet (OECD 1993) und gibt dafür die
folgenden Gründe an:
(1) Die
Kreditnachfrage zur Finanzierung der öffentlichen Defizite,
die nachfrageseitig den Zinssatz nach oben trieb.
(2) Den Inflationsdruck
in den 70er und frühen 80er Jahren, der sowohl mit der
Entwicklung der Nachfrage als auch der Kosten
(„Lohn-Preis-Spirale“) erklärt werden kann;
zunächst stiegen die Nominalzinsen, die dann aber beim
Rückgang der Inflationsraten nicht im Gleichschritt gefallen
sind. Denn die Inflation ist ja mit restriktiver Geldpolitik, also
hohen Zinsen, be kämpft worden.
(3) Die
Globalisierung der Finanzanlagen, weil auf der Suche nach den
besten Renditen die Zinsen überall angehoben werden mussten,
um mobile Geldvermögen an „Kapitalflucht“ zu
hindern oder international hochgradig mobiles Kapital „an den
Standort“ zu attrahieren.
(4)
Obendrein verschiebt sich in den G7-Ländern (besonders
ausgeprägt in der Euro-Region) das Niveau der realen
Wachstumsrate des BIP nach unten; nur die USA, Großbritannien
und Kanada machen hier eine Ausnahme (vgl.
Tabelle 2-4).Dafür gibt es viele Gründe, auf die hier
nicht eingegangen werden kann. Nur zwei sollen Erwähnung
finden:
Erstens müssten mit steigendem Niveau des
Sozialprodukts die absoluten (realen) Zuwächse immer
größer werden, um die Wachstumsrate auch nur konstant zu
halten. Dies ist so lange kein Problem, wie die Potenzialgrenzen
der Produktionsfaktoren nicht ausgeschöpft sind. Bei der
Arbeit gibt es sie angesichts struktureller Arbeitslosigkeit in den
Industrieländern (wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß)
allenfalls auf Teilarbeitsmärkten (vgl. hierzu das Kapitel 4 zu „Arbeitsmärkten“). Beim
Kapital sind zu gegebener Rendite – noch dazu unter dem Druck
des Share holder Value (vgl. hierzu Kapitel 3.4) – Potenzialgrenzen nicht
ausgeschlossen. Obendrein kann – ceteris paribus – ein
mit dem bereits erreichten BIP-Niveau steigender absoluter Zuwachs
ökologisch bedenklich sein, sofern ökologische
Effizienzgewinne („Ressourceneffizienz“; vgl. hierzu
das Kapitel 7zu „Ressourcen“)
nicht kompensierend wirken.
Zweitens sind in allen Ländern die Inflationsraten –
gleichgültig an welchen Indikatoren gemessen – seit der
zweiten Hälfte der 70er Jahre zunächst
rückläufig und dann vergleichsweise stabil auf niedrigem
Niveau, so dass die Nominalzinsen beträchtlich sinken
müssten, um die Niveauveränderungen der Realzinsen an die
realen Wachstumsraten des BIP anzupassen.
Einige Folgen
Die Folgen der Erhöhung des Zinsniveaus
über die realen Wachstumsraten sind beträchtlich.
Insbesondere ist davon auszugehen, dass Finanzanlagen im Vergleich
zu Sachanlagen in vielen Fällen (unter Berücksichtigung
von Risikofaktoren) höhere Renditen bringen. Dennoch ist die
Bewertung der Folgen hoher Realzinsen höchst strittig und zur
Beurteilung mancher Zusammenhänge fehlen ausreichende
Daten.11 Doch eines ist
klar: Hohe Realzinsen auf Geldvermögen – gerade im
Vergleich zu anderen Anlagen, immer unter Berücksichtigung von Risikofaktoren
– machen deren Anlagen besonders attraktiv. Davon ist ein
entscheidender Impuls zur Liberalisierung der Finanzmärkte
ausgegangen.
Erstens. Auf der einen Seite kann in
der sich öffnenden Schere zwischen Realzinsentwicklung und
Wachstums raten des BIP der positive Anreiz gesehen werden,
die ökonomischen Verhältnisse in Wirtschaft und Staat
rational und effizient ordnen zu müssen, um der
disziplinierenden Wirkung der Finanzmärkte Rechnung zu tragen.
Die zu zahlenden Zinsen sind für Investoren eine „harte
Budget- Restriktion“ (um den in anderem Zusammenhang für
die Analyse der Funktionsweise von Planwirtschaften geprägten
Begriff von János Kornai (1995) zu verwenden), die sie zwingt,
die zu Investitionszwecken aufgenommenen Beträge höchst
effizient zu verwenden. Dies ist auch die Schlussfolgerung des
Gutachtens Hagen, Hofmann (2002).
Felix (2002) hingegen kritisiert die
„Effizienzmarkt- Hypothese“, die hinter der positiven
Bewertung steht, als theoretisch fragwürdig und empirisch
nicht gesichert. Denn die durch hohe Realzinsen konditionierte
Projektauswahl kann advers sein: Wachstums- und
beschäftigungswirksame Investitionen werden zu Gunsten von
hochrentierlichen kurzfristigen Engagements unterlassen, da die
Rendite nicht auf das Niveau des „externen Zinsfusses“
angehoben werden kann. Langfristig ist dies riskant, weil die
Wettbewerbsfähigkeit in Mitleidenschaft gezogen werden kann
und es dann – insbesondere im Falle von externer
Kapitalaufnahme – zu massiven Kapitalbewegungen kommen kann.
Dieser Zusammenhang verweist darauf, dass in der Ökonomie
nicht nur die monetäre Budgetrestriktion zu beachten ist,
sondern auch andere Restriktionen von der Technik bis zu Prozessen
der Preisbildung auf Weltmärkten.
Zweitens. Von nicht wenigen Autoren
wird die Zunahme der Volatilität kurzfristiger Kapitalanlagen
für die Entstehung von Finanzkrisen wegen der plötzlichen
Invasion und Evasion von Kapital großen Umfangs (wegen des
„Herdenverhaltens der Anleger noch potenziert“)
mitverantwortlich gemacht. Das Institut für Weltwirtschaft,
Forschungsgruppe „Finanzmärkte“ (IfW 2000) wendet
sich gegen diese Sichtweise, ohne sie prinzipiell in Abrede zu
stellen. Man verweist darauf, dass volatile kurzfristige
Kapitalanlagen den langfristigen Direktinvestitionen folgen
würden. Die Volatilität der Kapitalanlagen generell
würde keinerlei Probleme heraufbeschwören, wenn die
realen Größen (Handel mit Gütern und Diensten, das
BIP und die Arbeitsmärkte) in ähnlicher Weise flexibel
und mobil und daher volatil sein könnten oder wenn die
finanziellen Anforderungen aus den volatilen Umdispositionen aus
realen Überschüssen problemlos abgedeckt werden
könnten. Dies dürfte jedoch nur in Ausnahmesituationen
der Fall sein – und am allerwenigsten in
Entwicklungsländern.
Drittens. Darüber hinaus
lösen hohe Realzinsen unweigerlich periodische Finanzkrisen
aus, wenn im Konjunkturverlauf die realen Erträge des Kapitals
(Renditen, Profitraten) absinken. Ob diese in Form von
Schuldenkrisen (wie in den 80er Jahren) oder Währungs- und
davon ausgelösten Finanzkrisen (wie in den 90er Jahren)
auftreten, hängt von vielen begleitenden Umständen ab,
die sowohl in globalen Funktionsmodi der Märkte (Grad der
Öffnung, wirtschaftspolitisches Paradigma etc.) als auch in
verfehlter makro- und mikroökonomischer Politik der
Anlageländer und in der Struktur der Gläubiger (Kredite
gewährende Banken oder Anleihen haltende Investitionsfonds)
ihren Ursprung haben können.
Viertens. Realzinsen oberhalb der
realen Wachstumsrate können wegen der einseitigen und an die
Substanz gehenden Transfers von verschuldeten Ländern zu den
Gläubigern die Ungleichheit in der Welt erhöhen, wenn es
Schuldnern nicht gelingt, sich zu entschulden und auf die Seite der
Vermögensbesitzer (Asset Holders) zu wechseln.
10 Vgl. hierzu das Minderheitenvotum der
CDU/CSU-Fraktion in Kapitel
11.1.7.1.
11 So wäre es beispielsweise wünschenswert,
international vergleichbare, verlässliche Daten zum
Verhältnis von Kapitalrendite und Zinskosten zu haben. Der
Sachverständigenrat (SVR) zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt im Anhang des
Jahresgutachtens 1998/99 eine Tabelle
zur„Gewinn-Erlös-Relation“ zusammen, in der auch
Daten zur Kapitalrendite ohne und mit Berücksichtigung der
Zinskosten zu finden sind. Aus den Daten lassen sich
Rückschlüsse auf die Bedingungen von
Geldvermögensund Sachvermögensbildung ziehen. Jedoch wird
nach Auskunft des SVR aufgrund einer Umstellung der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) die Datenreihe nicht
fortgesetzt, und internationale Vergleiche sind erst recht nicht
möglich.
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