3.1.4
Wissensorientierte Dienstleistungen17
Deutschland ist bis zur Gegenwart in
besonders ausgeprägter Weise eine Industriegesellschaft. Dies
hat auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften eine starke
Konzentration auf die industrielle Produktion und eine
jahrzehntelange Vernachlässigung der
Dienstleistungsentwicklung nach sich gezogen – mit der
doppelten Konsequenz, dass wir – bezogen auf die
Entwicklungsdynamik des Dienstleistungssektors – auf sehr
viel weniger wissenschaftliche Expertise zurückgreifen
können als für die Industrie und dass die amtliche
Statistik die Dienstleis tungsprozesse höchst
unzulänglich abbildet. Obwohl dieser Sachverhalt seit Jahren
bekannt ist und eine Verbesserung der amtlichen Statistik von
vielen Experten immer wieder angemahnt worden ist, hat sich in der
Realität wenig verändert. Die Restriktionen der
statistischen Basis beeinträchtigen auch Expertisen für
die Politik.
Für die wenigen klassischen
wissenschaftlichen Ansätze zur Dienstleistungsgesellschaft und
-ökonomie ist insbesondere das Thema der Internationalisierung
von Dienstleistungen randständig geblieben und gewinnt erst in
jüngster Vergangenheit mehr Aufmerksamkeit, nicht zuletzt im
Zusammenhang mit den Aktivitäten der WTO für eine
Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen (GATS).
Dienstleistungen galten in der ökonomischen wie in der
sozialwissenschaftlichen Debatte bis weit in die 80er Jahre hinein
als wenig rationalisierbar und stark ortsgebunden. Beide Annahmen
– hohe Rationalisierungsresistenz und starke Ortsgebundenheit
– begründen die „große Hoffnung“ der
Beschäftigungspolitik, dass die Dienstleistungen die
rationalisierungsbedingten Arbeitsplatzverluste im industriellen
Sektor durch Ausweitung tertiärer Beschäftigung
kompensieren werden.
Beide Annahmen waren vermutlich selbst in der
Vergangenheit nicht ganz zutreffend. Man denke etwa in der
Büroarbeit an den Übergang von der handschriftlichen zur
maschinellen Bearbeitung von Texten oder den Übergang von der
schriftlichen zur telefonischen Kommunikation sowie an die
Kreditwirtschaft, die sich schon vor Jahrhunderten
internationalisiert hat. Spätestens seit dem Siegeszug der
neuen IuK-Medien aber sind beide Annahmen endgültig obsolet
geworden.
Im Zusammenhang mit der
Globalisierung ist die Frage des Ausmaßes von
Standortgebundenheit oder -ungebundenheit von Dienstleistungen von
besonderem Interesse. Die Annahme basiert auf der Vorstellung von
der Einheit von Herstellung und Konsum einer Dienstleistung (uno
actu-Prinzip), die auch heute für viele Dienstleistungen immer
noch eine gewisse Gültigkeit hat, so z.B. für viele
Beratungs-, Gesundheits-, Bildungs- und Pflegedienstleis
tungen.
Für
zunehmend mehr Dienstleistungen aber wird durch die Anwendung der
neuen Informations- und Kommunikationstechnologie die
Standortgebundenheit und die räum liche Einheit von
Produktion und Konsum von Dienstleis tungen weitgehend
aufgehoben. Durchsetzung und Fortentwicklung der IuK-Technologien
setzen völlig neue Bedingungen für die räumliche und
institutionelle Verteilung von Dienstleistungstätigkeiten und
für die globale Konkurrenz in den Dienstleistungsangeboten,
wie sie noch vor einem Jahrzehnt kaum vorstellbar waren. Dies ist
nicht so zu verstehen, dass das Internet und die neuen Tele
kommunikationsmedien räumliche Aspekte vollkommen gleich
gültig machten und dass es schnell zu einer globalen
virtuellen Dienstleistungswelt käme, in der räumliche
Bindungen von Dienstleistungsprozessen keine Rolle mehr spielten.
Aber es kommt zu einer neuen Kombination von virtuellen und an den
physischen Raum gebundenen Prozessen. Man kann sich diesen
Zusammenhang an den Finanzdienstleistungen klar machen: Obwohl kein
anderer Bereich so sehr globalisiert ist wie die
Finanzdienstleis-tungen, behält die räumliche Nähe
eine hohe Bedeutung, weil man bei den sensiblen
Finanzgeschäften als Kunde den Finanzdienstleistern ins Auge
schauen möchte und eine Vertrauensbasis durch
Face-to-face-Kommunikation sichern will. Die
Transferierungsprozesse kann man computerisieren, die
Entscheidungsprozesse kaum. Ein Teil der Dienstleistungen,
insbesondere solche der Information und des Zahlungsverkehrs, kann
über das Internet weltweit abgewickelt werden, während
ein anderer Teil, der auf Beratung zielt, meistens auch physische
Kontaktmög lichkeiten erfordert. Im Resultat führt
eine derartige Kombination von Internet- und physisch gebundenen
Dienstleis tungen dazu, dass es in den wichtigen
Finanzdienstleistungszentren der Welt zu einer Ballung auch
physischer Präsenz der Global Player der
Finanzdienstleis tungen kommt.
Insofern ist auch
das Bild der „flüchtigen Dienstleistungen“ die
gegen die bodenständigen Dienstleistungen stehen, nicht ganz
richtig. Es trifft gleichwohl den wichtigen Sachverhalt, dass es
bei einer Reihe von wissens- und kommunikationsintensiven
Dienstleistungen zunehmend zu globalen Verteilungen von
Tätigkeiten und Angeboten kommt. Dieser Sachverhalt ist
selbstverständlich nicht nur durch die Informationstechnik
bedingt, sondern basiert auf der verstärkten
Internationalisierung und Globalisierung der
Wirtschaftsbeziehungen.
Der Grad der
Raumgebundenheit von Dienstleistungen hängt von ihren
Eigenschaften ab. Entsprechend sind unterschiedliche Dienstleistungssektoren
auch unterschiedlich stark dem internationalen Wettbewerb
ausgesetzt. Handel, Hotel und Gaststätten sowie
Reinigungsgewerbe beispielsweise sind dies weniger, informations-
und wissensintensive Dienstleistungen sind dem internationalen
Wettbewerb demgegenüber in besonderer Weise ausgesetzt. Das
sind die Dienstleistungsbereiche, in denen die deutsche
Dienstleistungswirtschaft relativ schwach ist und vor allem im
letzten Jahrzehnt im internationalen Handel an Boden verloren hat.
Dies ist beschäftigungspolitisch besonders prekär, weil
die wissensintensiven Dienstleistungen strategische Bedeutung
für die Entwicklung sowohl von Unternehmen als auch von
anderen personenbezogenen Dienstleistungen haben; letzteres vor
allem deswegen, weil sie zumeist hochbezahlt sind, so dass von
ihnen auch verstärkt eine Nachfrage nach personengebundenen
Dienstleistungen ausgehen kann.
17 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem
Referat von Baethge vor der Enquete-Kommission
„Globalisierung“ (Baethge 2002).
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