3.1.3
Hierarchisierung von Märkten und Branchen: Öffnungsgrade
und Protektion11
Sektorstruktur: Die Güterstruktur
des Welthandels hat in den vergangenen Jahrzehnten einen
tiefgreifenden Strukturwandel durchgemacht. Das dynamische
Vordringen des Industriegüter- und Dienstleistungshandels ging
mit einem entsprechenden Bedeutungsverlust des Handels mit
Agrarprodukten von 47 Prozent (1950) auf nur noch 9Prozent des
Welthandels (2000) einher (WTO 2000b). Dennoch bleiben insbesondere
einige Entwicklungsländer in hohem Maße vom Agrarexport
abhängig. Auch hat der wirtschaftliche Bedeutungsverlust den
politischen, auf Protektion zielenden Einfluss der Agrarlobby in
den wichtigsten Industrieländern kaum gemindert.
Das dynamische Element des
Industriegüterhandels sind wertschöpfungs- und
technologieintensive Produkte. Mit Entwicklungsländern
tauschen die Industrieländer immer noch ihre technologisch
anspruchvolleren Industrieprodukte gegen die arbeits- und
rohstoffintensiven Erzeugnisse der Entwicklungsländer
(inter-industrieller Handel). Einzelne Schwellenländer dringen
jedoch bereits in typische Exportdomänen der
Industrieländer vor (Beispiel: Elektrotechnik und Elektronik,
Automobile) und treten verstärkt in den intra-industriellen
Handel ein. In traditionellen Verbrauchsgüterindustrien wie
der Textil- und Bekleidungsindustrie ist die intra-industrielle
internationale Arbeitsteilung meist weniger weit vorangeschritten
als in technologie- und kapitalintensiven Sektoren wie der Chemie-,
Automobil- und feinmechanisch-optischen Industrie. In Zukunft ist
mit einem weiter steigenden Gewicht des intra-industriellen
Austauschs im Welthandel zu rechnen. Dies mindert
protektionistischen Druck, da die Vor- und Nachteile der
strukturellen Anpassung sich jeweils in der gleichen Branche und
oftmals auch innerhalb der gleichen Unternehmen niederschlagen.
Im internationalen Dienstleistungshandel hat
sich ein weitreichender Strukturwandel vollzogen12: Der Anteil der ehemals dominierenden
Transportleistungen ist seit 1990 stark geschrumpft, während
das Gewicht des Reisesektors zunächst kräftig zugenommen
hat, aber seit 1990 auf dem erhöhten Niveau stagniert.
Demgegenüber sind die „sons-tigen
Dienstleistungen“ stetig und kräftig expandiert und
bilden nunmehr mit Abstand den größten der drei
Hauptdienstleistungssektoren. Dynamische Entwicklungsmus-ter sind
vor allem bei international gehandelten Kommunikations-, Computer-
und Informations-, Finanz- und Versicherungs-, persönlichen,
kulturellen und Erholungsdienstleistungen sowie bei Lizenz- und
Gebührenzahlungen (beispielsweise für die Nutzung von
Software) festzustellen. Das Wachstumspotenzial im internationalen
Dienstleistungssektor ist außerordentlich hoch
einzuschätzen, zumal die Entwicklung der Informations- und
Kommunikationstechnik dazu führt, dass immer mehr
Dienstleistungen handelbar werden und der Abbau von
Marktzugangshindernissen und Diskriminierungen ausländischer
gegenüber inländischen Anbietern sowie zwischen
ausländischen Anbietern aus verschiedenen Ländern gerade
erst begonnen hat.
Offenheit: Seit dem Ende des 2.
Weltkriegs ist eine besonders starke Öffnung der
Volkswirtschaften zu beobachten. Die globale Export- und
Außenhandelsquote (Anteil des Exports von Gütern und
Dienstleistungen bzw. der Summe aus den entsprechenden Ex- und
Importen am Bruttoinlandsprodukt) hat erheblich zugenommen und
vielfach Werte von über 20 bzw. 40 Prozent erreicht. Dabei
sind deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern und
Ländergruppen zu erkennen. In der außerordentlich hohen
Export- und Außenhandels orientierung der
Hocheinkommensländer außerhalb der OECD kommt in erster
Linie zum Ausdruck, dass es sich hierbei um kleine
Volkswirtschaften handelt. Sie sind in hohem Maße auf den
Außenhandel angewiesen, um ihre Ressourcen effizient nutzen
und eine differenzierte Nachfrage bedienen zu können. Bei den
OECD-Ländern fällt auf, dass die USA (hauptsächlich
bedingt durch die Größe des Binnenmarktes) und Japan
relativ geringe Offenheitsgrade aufweisen.
Besonders dynamisch ist die Entwicklung in
der Asien-Pazifik-Region verlaufen. Dies gilt infolge der Hin
wendung zur Marktwirtschaft auch für China. In Latein
amerika verlief die Öffnung der Volkswirtschaften
demgegenüber eher verhalten. In Mexiko hat allerdings das
Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) die (einseitig auf
die USA ausgerichtete) außenwirtschaftliche Öffnung
kräftig vorangetrieben. Dagegen hat sich der Offenheitsgrad
der 49 ärmsten Entwicklungsländer im Laufe der letzten
vier Jahrzehnte nicht wesentlich erhöht. Er schwankte vielmehr
zwischen zwölf und 17 Prozent.
Während der Dienstleistungssektor in den
OECD-Volkswirtschaften dominiert, liegt der internationale
Dienst-leistungshandel lediglich bei weniger als einem Viertel des
gesamten Welthandelvolumens. In sektoraler Hinsicht ist daher die
Erstellung von Dienstleistungen insgesamt noch in wesentlich
geringerem Maße dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt als
die Warenproduktion. Innerhalb der verarbeitenden Industrie sind
erhebliche Branchenunterschiede im Offenheitsgrad zu beobachten.
Gemessen am Anteil der Importe am Inlandsmarkt
(Importpenetrationsgrad) haben innerhalb der „Triade“
die USA (und Kanada) insgesamt stärker als die EU und diese
stärker als Japan ihren Inlandsmarkt für
auslän dische Industrieprodukte geöffnet (UNCTAD
1980 bis 1995). Dies gilt in erster Linie für Erzeugnisse aus
Entwicklungsländern. Die stärksten Zuwächse und bei
weitem höchsten Marktanteile in Industrieländern haben
die Entwicklungsländer aufgrund ihrer komparativen Kos
tenvorteile bei arbeitsintensiven Produkten mit
Bekleidungserzeugnissen und Schuhen erzielt. In Nordamerika haben
sie sich vor allem mit Schuhen, in Westeuropa und Japan mit
Bekleidung etablieren können. Relativ hohe Marktanteile
erreichen Anbieter aus Entwicklungsländern auch bei Textil-
und Holzprodukten sowie bei ölerzeugnissen, in der
Elektroindustrie (hier vor allem in Nordamerika) und in der
Stahlindustrie (hier vor allem in Japan). Demgegenüber werden
die Importmärkte der Triade für hochwertige
Wirtschaftsgüter (Maschinen, Fahrzeuge) von Unternehmen aus
Industrieländern beherrscht.
Der Offenheitsgrad der OECD-Industrie ist in
den 90er Jahren weiter gestiegen. Der Durchschnittswert aus
Exportquote (Export/Produktion) und Importpenetrationsrate
(Import/Inlandsnachfrage) hat im verarbeitenden Sektor zwischen
1990 und 1998 von 19 auf 25Prozent zugenommen. Technologie- und
humankapitalintensive Branchen wie die Computerindustrie und der
Flugzeugbau weisen den höchsten und am schnellsten gestiegenen
Offenheitsgrad auf, während arbeits- und sachkapital
intensive Industriezweige wie z.B. die Papierverar beitung
oder die Herstellung von Metallprodukten am unteren Ende
rangieren.13 Dabei zeigen
sich zugleich unterschiedliche Spezialisierungsmuster bei den
Handels-partnern: Während die USA (abnehmend), Japan
(verstärkt) und Großbritannien (unverändert)
über komparative Vorteile in Hochtechnologiebranchen
verfügen, haben sich die deutsche, französische und
italienische Industrie auf Aktivitäten konzentriert, die durch
ein mittleres Technologieniveau gekennzeichnet sind.14
Protektionismus: Nach Schätzungen
der UNCTAD (2002: 136) könnte ein den komparativen
Kostenvorteilen der Entwicklungsländer bei arbeitsintensiven
Produkten entsprechender Marktzugang in die Industrieländer
den Entwicklungsländern bis 2005 zu zusätzlichen
Einnahmen von jährlich 700 Milliarden US-Dollar verhelfen.
Dies entspricht 35 Prozent ihrer jährlichen Einnahmen bzw. 65
Prozent ihrer derzeitigen Warenexporte. Die
Entwicklungszusammenarbeit der OECD-Länder beläuft sich
derzeit auf 50 Milliarden US-Dollar. Allerdings ist nicht jede
Ausnutzung komparativer Kostenvorteile zu begrüßen,
sofern sie z.B. auf sozialer und ökologischer Ausbeutung
beruht (vgl. auch Kapitel 3.5).
Die starke weltwirtschaftliche Öffnung
der Volkswirtschaften ist auf die regionalen Integrationsprozesse
(z.B. die Schaffung des europäischen Binnenmarktes) und auf
die Erfolge beim multilateralen Abbau von Handelshemmnissen
zurück zu führen. So ist es in den acht bisherigen
multilateralen Handelsrunden gelungen, die handelsgewichtete
Zollbelastung gewerblicher und industrieller Handelsgüter in
Industriestaaten von etwa 40Prozent auf vier Prozent zu reduzieren.
Die Entwicklungsländer haben sich zunehmend in das
internationale Regelwerk von GATT und WTO integriert, dem –
nach dem Beitritt Chinas im Dezember 2001 – nunmehr über
90 Prozent des Welthandels unterliegen. Die Liberalisierungserfolge
dürfen jedoch nicht über die in erheblichem Maße
fortbestehende Protektion in einzelnen Ländern und
Ländergruppen wie auch bei Produkten und Produktgruppen
hinwegtäuschen. So liegt das durchschnittliche gewogene
Zollniveau heute zwar bei acht Prozent (in den
Industrieländern bei acht Prozent und in den
Entwicklungsländern bei 13 Prozent).15 Weit höher ist die durchschnittliche
tarifäre Protek tion jedoch in einzelnen, vor allem in
den ärmsten Entwick lungsländern. Zudem werden
Agrarprodukte erheblich stärker tarifär geschützt
(27 Prozent), Industrieprodukte dagegen mit „nur“
sieben Prozent. Dabei und bei der weiteren Darstellung der
Problemlage gilt es zu beachten, dass die Zölle in vielen
Entwicklungsländern eine nicht zu unterschätzende –
ja zum Teil unverzichtbare – Funktion für die
Staatseinnahmen und damit für die Finanzierung des staatlichen
Verwaltungsapparates spielen. Zölle sind oft die einzige
gewichtige Ersatzeinnahmequelle anstelle nicht funktionierender bzw. nicht vorhandener
Steuersys-teme. Es besteht die Gefahr, dass fehlende Zolleinnahmen
in einzelnen Ländern die Bereitschaft zur Korruption von
Staatsbeamten bewirken oder fördern können. Der Abbau von
Zöllen ist deshalb in diesen Ländern an die Entwicklung
anderer zuverlässiger und rechtlich abgesicherter
Staatseinnahmen zu koppeln.
Sowohl in Industrie- als auch in
Entwicklungsländern werden einzelne landwirtschaftliche und
industrielle Erzeugnisse z. T. sehr hohen Zöllen (Tariff
Peaks) unterworfen. Auch steigen die Abgaben mit zunehmendem
Verarbeitungsgrad (Tariff Escalation) und behindern so Export- und
Diversifizierungsbemühungen besonders von
Entwicklungsländern.
Entwicklungsländer sehen sich auf den
Industrieländermärkten einer deutlich höheren
Zollbelastung bei Verarbeitungserzeugnissen gegenüber als
Industrieländer (3,4 Prozent gegenüber 2,0 Prozent). Sie
selbst schützen sich mit über viermal höheren
Industriegüter-Zöllen, wovon der Süd-Handel
(zwölf Prozent) noch stärker betroffen ist als die
Exporte der Industrieländer (elf Prozent). Besonders stark
richtet sich diese Protektion gegen die Exportbemühungen von
LDC (14 Prozent). Die tarifäre Belastung einzelner
Ländergruppen ist im Agrarhandel weit weniger differenziert.
Agrarexporte der LDC haben allerdings sowohl in Industrie- als auch
in anderen Entwicklungsländern niedrigere tarifäre
Barrieren zu überwinden (16 bzw. 17 Prozent) als ihre
Konkurrenten.
Der fortschreitenden Kompensation der
tarifären durch nicht-tarifäre Protektion wurde zwar
– besonders in der Uruguay-Runde – mit neuen Regeln
begegnet. Quoten, Subventionen, Selbstbeschränkungsabkommen,
Anti-Dumping-Verfahren, Standards, Zollverfahren und Schutz
klauseln stellen jedoch nach wie vor eine starke Belastung des
Welthandels dar. In Entwicklungsländern haben
nichttarifäre Handelsschranken insgesamt ein höheres
Gewicht als in Industrieländern. In Industrieländern wird
vor allem der Textil- und Bekleidungssektor nach wie vor durch
nichttarifäre
Handelshemmnisse stark geschützt.16 Anti-Dumping-Verfahren haben stark
zugenommen – sowohl in Industrie- als auch in
Entwicklungsländern (1958: 37; 1995–99: 1218 Fälle)
(IWF/Weltbank 2001: 28f.). Eine Quelle immer wieder aufflammender
Handelsstreitigkeiten sind die NTB (Non-tariff Barriers of Trade)
im Agrarbereich. Zwar wurde in der Uruguay-Runde ein wichtiger
Schritt zur Eingrenzung des Problems unternommen, die Wirkungen
blieben bisher jedoch eher bescheiden. Subventionen und sonstige
Stützungsmaßnahmen der Landwirtschaft in den Indus
trie ländern werden auf mehr als das Fünffache der
gesamten jährlichen Entwicklungshilfe geschätzt (Weltbank
2002a: 47). Die restriktiven Wirkungen der tarifären und
nicht-tarifären Protektion werden durch die zahlreichen
Zollpräferenzen, die die Industrieländer den
Entwicklungsländern seit Jahrzehnten einseitig gewähren,
nur teilweise gemildert.
Trotz großer methodischer Probleme, die
Protektion im internationalen Dienstleistungsverkehr zu erfassen,
ist davon auszugehen, dass sowohl in Industrie- als auch in
Entwicklungsländern erhebliche Handelsbeschränkungen
bestehen (IWF/Weltbank 2001). Der Anteil liberalisierter
Dienstleistungen, bei denen keine Beschränkungen des
Marktzugangs und der Inlandsbehandlung (National Treatment)
bestehen, liegt in den Hocheinkommensländern lediglich bei
einem Viertel und in den übrigen Ländern bei weniger als
zehn Prozent (OECD 2001d: 81).
11 Der wissenschaftliche Input zu diesem entstammt zum
überwiegenden Teil dem Gutachten von Borrmann, Jungnickel,
Koopmann (2002).
12 Vgl. dazu auch Enquete-Kommission
„Globalisierung“ (2001c: 51 ff.).
13 Untypisch ist die Entwicklung der Textil- und
Bekleidungsindustrie, die nach diesen Kriterien eher im unteren
Bereich zu vermuten wäre, tatsächlich aber zu den am
stärksten exportorientierten Branchen zählt.
14 Insbesondere in den Hochtechnologiebranchen (Luft-
und Raumfahrt, Pharma, Computertechnik, Kommunikationstechnik und
Feinmechanik) ist die Exportintensität deutlich stärker
gestiegen als in den übrigen Industrien.
15 Vgl. dazu und zu den folgenden Abschnitten
IWF/Weltbank 2001.
16 Zwar wurde in der Uruguay-Runde das Auslaufen des
Multi-Faser- Abkommens im Jahr 2005 beschlossen, jedoch wird eine
Fortsetzung der Protektion mit anderen Mitteln befürchtet
(Anti-Dumping, technische Hemmnisse) (IWF/Weltbank 2001:
27).
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