3.1.4.1 Deutschland innerhalb der
internationalen Dienstleistungs entwicklung
Mit einer
gewissen Verspätung hat sich auch in Deutschland der
Strukturwandel zur Dienstleistungsökonomie am Ende des letzten
Jahrhunderts unübersehbar durchgesetzt. Der Streit, ob es in
der Bundesrepublik eine Dienstleis-tungslücke gäbe, hat
in den letzten Jahren die Expertendiskussion sehr stark beherrscht.
Bezogen auf den Anteil von Dienstleistungstätigkeiten kann man
sagen, dass die Bundesrepublik mit anderen Ländern in etwa
gleichgezogen hat. Nach der sektoralen Gliederung hinkt sie zwar
immer noch ein beträchtliches Stück hinter
vergleich baren In-dustrienationen hinterher. Untersuchungen
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus den
letzten Jahren aber zeigen, dass in Bezug auf die Berufs- und
Tätigkeitssystematik auch in der Bundesrepublik der Anteil der
Erwerbstätigen, die mit Dienstleis tungsarbeiten befasst
sind, ähnlich hoch ist wie in den USA oder vergleichbaren
Mitwettbewerbern am Weltmarkt; der Anteil liegt in all diesen
Ländern zwischen 70 und 75 Prozent. Das Problem der
Bundes republik aber besteht darin, dass sich diese
Entwicklung in Deutschland auf einem deutlich niedrigeren Niveau
der Erwerbstätigkeit insgesamt vollzieht als etwa in den USA
oder auch in vergleichbaren europäischen Ländern. Denn:
Wäre in Deutschland die Beschäftigung insgesamt
höher, so gäbe es auch mehr Beschäftigte, die
Dienstleistungen erbrächten. Da dies aber nicht der Fall ist,
gibt es doch eine Dienstleistungslücke (vgl. 4.2.2.2). Diese
Lücke bezieht sich nicht allein auf die personengebundenen
Dienstleistungen, die in der beschäftigungspolitischen
Diskussion der letzten Jahre oft im Vordergrund gestanden haben,
sondern sie betrifft die unterschiedlichen Bereiche der
Dienstleistungswirtschaft.
Die Suche nach
den Ursachen dieser Lücke soll im Folgenden auf die
wissensintensiven und unternehmens- bezogenen Dienstleistungen
konzentriert werden – und zwar sowohl wegen ihrer
strategischen Bedeutung für die Beschäftigungsentwicklung
insgesamt als auch wegen der Tatsache, dass sie im besonderen
Maße dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Zur
Beantwortung der Frage nach der Stellung Deutschlands in der
internationalen Entwicklung der wissensintensiven Dienstleis
tungen kann man auf unterschiedliche Indikatoren zurückgreifen. Im
Folgenden sollen die Anteile an den Erwerbstätigen sowie Daten
der Außenhandelsbilanzen herangezogen werden.
Die wissensintensiven Dienste sind von
allen Beschäftigungsbereichen in den 90er Jahren der am
stärksten expandierende Bereich. Er erhöhte seinen Anteil
an der Gesamtheit der Erwerbstätigen um über sechs
Prozentpunkte auf etwa 24 Prozent der Gesamterwerbstätigen (s.
Abbildung3-2).
Besonders dynamisch entwickeln sich hierbei
die unternehmensbezogenen wissensintensiven Dienste. Sie nehmen im
Langzeitvergleich zwischen 1980 und 1997 in Westdeutschland um 112
Prozent zu und steigern ihren Anteil an allen Beschäftigen in
diesem Zeitraum von 2,2 Prozent auf 4,4 Prozent. Zieht man einen
noch längeren Zeitraum für die Entwicklung der
Erwerbstätigkeit insgesamt heran, so zeigt sich, dass zwischen
1977 und 1999 der primäre Sektor um 20 Prozent, der
sekundäre Sektor um 15 Prozent seiner Beschäftigten
schrumpft, der tertiäre Sektor insgesamt um 42Prozent zunimmt,
die unternehmensbezogenen Dienste sogar um 162 Prozent. In den 90er
Jahren stagniert der Anteil der nicht-wissensintensiven
Dienstleistungen an den Erwerbstätigen insgesamt bei etwa 42
Prozent.
Im
internationalen Vergleich zeigt sich, dass der Anteil der
wissensintensiven Dienstleistungen in der Bundes republik
sich in den 90er Jahren in etwa mit der gleichen Dynamik entfaltet
wie in den USA und Frankreich, aber von einem deutlich niedrigeren
Ausgangsniveau ausgehend (s.
Abbildung 3-2).Analysiert man die aktuellen
Austauschbeziehungen von Dienstleistungen, so wird man feststellen
müssen, dass im Gegensatz zum Produktionssektor, wo
Deutschland immer noch eine Spitzenposition einnimmt, im Bereich
der Dienstleistungen die Bilanz im internationalen
Dienstleistungsverkehr negativ ist. Es ist aufschlussreich, dass
die beiden noch am stärksten industriell geprägten
Volkswirtschaften Deutschland und Japan die höchste
Negativbilanz im Dienstleistungsverkehr aufweisen, während die USA
eine deutliche Positiv bilanz zeigt (+ 5,4 Prozent
gegenüber jeweils – vier Prozent für Deutschland
und Japan).
Trotz nicht
unerheblicher Steigerung in der Wertschöpfung des
Dienstleistungssektors insgesamt und wesentlicher einzelner
Dienstleistungssektoren verschlechtert sich die
Außenhandelsbilanz der Bundesrepublik mit Dienstleis-tungen
insgesamt zwischen 1991 und 2001 um 266 Prozent, für die hier
besonders interessierenden wissensintensiven Dienstleistungen
verschlechtert sich die Bilanz noch in deutlich höherem
Maße. Man kann gegenüber den Daten der
Außenhandelsbilanz sicherlich einwenden, dass hier
Veränderungen der Währungsparitäten etwa zwischen
Dollar und DM nicht eingingen. Dies mag die
Größenordnung der Veränderung etwas relativieren,
nach Auffassung von Experten kann die Bereinigung nicht über
die generelle Richtung der Verschlechterung der
Dienstleistungsbilanzen hinweg täuschen. Im Vergleich mit
anderen Ländern fällt im Laufe der 90er Jahre der
Dienstleistungssaldo (ohne Touristik) in Deutschland (s.Ab
bildung 3-3). Selbst der Anteil der Dienstleis tungen am
Gesamtexport hat in diesem Zeitraum eine fallende Tendenz im
Gegensatz zu den USA und Großbritannien.
Es wird
häufig gesagt, dass diese Bilanzen die tatsächliche
Situation zu Ungunsten der Bundesrepublik verzerren, weil ein hoher
Dienstleistungsanteil – ca. 40 Prozent am eigentlichen
Produktwert – in den industriellen Exportgütern
enthalten sei und dieser Anteil an Dienstleistungen nicht in die
Bilanz mit einfließe. Der hohe Außenhandelsexport
enthalte also mehr „versteckte Dienstleistungswerte“
als bei weniger starken industriellen Exportnationen. Das Argument
ist richtig, wiegt aber den möglichen
Beschäftigungszuwachs in der Dienstleistungsbilanz nicht auf.
Tatsächlich ging die Beschäftigung in den 90er Jahren
trotz eines zunehmenden Anteils an Dienstleistun- gen in den
Industrieprodukten in der Industrie insge- samt und auch in den
wissens- und/oder FuE-intensiven Indus trien deutlich
zwischen 30 und 35 Prozent zurück. Insofern ist die
strategische Empfehlung, statt auf Export von Dienstleistungen
(Export of Services) auf die Dienstleistungsunterstützung von
Exportgütern (Servicing Exports) zu setzen, nicht
unproblematisch. Will man eine dauerhafte Verbesserung der
Beschäftigungssituation, muss man beides intensiv betreiben.
Die Frage, wie man die Bilanz im Dienstleistungssektor,
insbesondere in den wissensintensiven unternehmensbezogenen
Diensten verbessern kön ne, bleibt also aktuell. Ihre
Beantwortung setzt zunächst eine Klärung der Ursachen
für die Schwäche der wissens-/unternehmensbezogenen
Dienstleistungen voraus. Hier lassen sich drei zentrale
strukturelle Standortfaktoren identifizieren (Ochel, zitiert nach
Baethge 2002), von denen der erste schwerer zu beeinflussen ist als
die beiden anderen:
1.
Die internationale Marktstruktur in den unternehmensbezogenen
Dienstleistungen ist nicht zufällig durch amerikanische und
britische Unternehmen dominiert. Dies hängt nicht zuletzt
damit zusammen, dass zum einen das angelsächsische
Handelsrecht und die Bilanzierungsvorschriften frühzeitig
internationale Anerkennung fanden, zum anderen die USA bis in die
80er Jahre hinein das führende Land in der Mikroelektronik
schlechthin war und damit die Standards festlegen konnte, innerhalb
derer sich der Markt für die DV-Dienstleistungen weltweit
entwickelte. Wenn heute unter den 50 größten Unternehmen
der Welt im Bereich wirtschaftsnaher Dienstleistungen (Rechts-,
Steuer-, Unternehmensberatung, Wirtschaftsprüfung, Markt- und
Meinungsforschung, Werbeagentur) sich kein deutsches Unternehmen
befindet, spricht dies eine deutliche Sprache über die Wirkung
der historischen Strukturen. Nur ein deutscher Unternehmensberater
hat sich zu einem großen, multinational tätigen
Unternehmen seiner Branche entwickelt.
Die beiden anderen Argumente lassen sich auf
den Nenner bringen: Die jahrzehntelange Stärke der Industrie
ist aufgrund der spezifischen Industrialisierungstradition und
-schwerpunkte der deutschen Wirtschaft mit einer Schwäche in
den industriebezogenen Diensten erkauft. Dies liegt an zwei
Punkten:
2.
Die Spezialisierung Deutschlands auf Industriegüter
beeinträchtigte die Dienstleistungsentwicklung insgesamt und
somit auch die wirtschaftsnahen Dienste. Die starke Ausrichtung auf
industrielle Leistungsfähigkeit und technologische Innovation
führte dazu, dass anderen Dienstleistungsfeldern zu wenig
Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Die Folge: Der Sektor blieb in seiner
Entwicklung hinter seinen Möglichkeiten zurück.
Entsprechend sind sowohl die Institutionen sowie der
wirtschaftspolitische Ordnungsrahmen noch stark auf die Bedingungen
einer Industriegesellschaft ausgerichtet.
3.
Das deutsche Modell industrieller Produktion zeichnete sich ein
Jahrhundert lang durch eine hohe Fertigungstiefe und
„Inhouse“-Erstellung von Dienstleis tungen aus,
was sich durchaus positiv auf ihre interne Qualität und
Wirkung ausgewirkt haben mag. Gleichzeitig muss diese Struktur sich
negativ auswirken, wenn es darum geht, Dienstleistungen zu
verkaufen. Die heute sichtbar werdenden Grenzen der
Entwicklungsfähigkeit unternehmensbezogener Dienstleistungen
sind offensichtlich stark von den Pfeilern des „Modells
Deutschland“ und der ihm eigenen Unternehmenskultur bestimmt,
und deswegen sind sie nicht leicht zu korrigieren. Sie spiegeln
eine Erfolgsgeschichte über lange Zeit wider. Sie machten
Sinn, solange die Produktion das strategische Zentrum der
Wirtschaft ausmachte und den höchsten Anteil an der
Wertschöpfung hatte. Wo dies nicht mehr der Fall ist und wo
Wissen, FuE, Marketing sowie Innovation in den modernen Industrien
das entscheidende strategische Gewicht und einen zunehmenden
Wertschöpfungsanteil haben, wird diese Struktur
problematisch.
Die genannten
Schwächen zwingen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften,
Unternehmer und Betriebsräte einerseits, aber auch die Politik
zu raschem Handeln. Man muss sich nur die Dimensionen der
notwendigen Veränderungen klar machen, darf Effekte aber
zugleich nicht von heute auf morgen erwarten und braucht einen
langen Atem. Eine breite Verbesserung der Bedingungen für eine
Stärkung von Qualität und Quantität
wissensintensiver unternehmensbezogener Dienstleistungen ist nicht
allein wegen neuer Beschäftigungspotentiale, sondern auch
wegen der Stabilisierung der Industrieexporte wichtig.
Zunächst
gilt, dass heute auch für den Verkauf von Indus
trie gütern im Ausland das Konzept technischer Exzellenz
nicht mehr ausreicht.18
Die produzierenden Unternehmen sollten sich vom Produktentwickler
zum Problemlöser entwickeln. Produkte sind in Leistungen
einzubetten, die dem Kunden helfen herauszuarbeiten, welches
Produkt er braucht und wie er es bestmöglich nutzt. Hierdurch
kann es zu einer Erhöhung der Kundenbindung kommen. Gerade bei
vielen Exportgütern entsteht die Situation, dass indus-trielle
Produkte nur noch mit zugleich komplementären Dienstleistungen
zu verkaufen sind. Dies gilt etwa für höherwertige
Anlagen und Industriegüter, die heute in der Regel nur mehr
mit „Local Content“-Verträgen zu vertreiben sind.
Die Industrie ist nicht mehr nur Produkthersteller, sondern zu
einem servo-industriellen Komplex geworden.
18 Dies haben etwa Untersuchungen des Fraunhofer
Instituts (ISI) sowie des IFO-Instituts ergeben.
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