3.1.6 Zur
statistischen Erfassung der Globalisierung
3.1.6.1 Unzureichendes
Datenmaterial und daraus resultierende Probleme
Die Enquete-Kommission hat bei ihrer Arbeit
immer wieder feststellen müssen, dass wichtige Daten zur
Beurteilung von Globalisierungstatbeständen und -trends nicht
in der notwendigen Form zur Verfügung standen. Zwar gibt es
eine Fülle von statistischen Daten, die von vielen nationalen,
internationalen und supranationalen Stellen veröffentlicht
werden, aber allzu häufig sind sie nicht ausreichend
aussagekräftig. Dazu tragen vor allem Probleme der
Verfügbarkeit, Vergleichbarkeit und Interpretation bei.
Für manche Fragen fehlen Daten völlig, andere Daten
weisen Mängel in der Tiefengliederung auf.
– Verfügbarkeit: Die Internationalisierung
der Produktion sowie des Transfers von Technologie (technisches
Wissen) durch multinationale Unternehmen, die für die jetzige
Phase der wirtschaftlichen Globalisierung besonders
charakteristisch sind, werden in vielen Ländern durch die
nationale Statistik größtenteils nicht erfasst,
nämlich insoweit sie im Gastland der ausländischen
Direktinvestitionen stattfinden. Oder im
Dienstleistungsbereich:
Die Zahlungsbilanzstatis tik hat als Hauptquelle
für den internationalen Dienstleis tungsverkehr
zahlreiche Schwächen. Dies führt zu einer
Unterschätzung des tatsächlichen Umfangs des
internationalen Dienstleistungsverkehrs. In vielen Ländern
sind zudem die statistischen Erfassungsverfahren ungenau und durch
große Zeitverzögerungen geprägt (HWWA 2001).
– Vergleichbarkeit: In dem Maße
wie nationalen Statistiken unterschiedliche statistische Konzepte
und Abgrenzungen zugrunde liegen, ist deren internationale
Vergleichbarkeit problematisch, erst recht gilt dies für
daraus abgeleitete Globalisierungsindikatoren. Verschie dene
internationale Organisationen (UN, IWF, WTO, OECD) verarbeiten
Daten zum Außenhandel. Ihre z.T. unterschiedlichen Methoden
zur Korrektur fehlender oder
verzerrter Daten führen zu Abweichungen in den internationalen
Außenhandelsstatistiken und erschweren dadurch
Außenhandelsanalysen. Unterschiedliche Abgrenzungen von
Ländergruppen in den Datenbanken der großen
internationalen Organisationen erschweren zusätzlich die
Zusammenführung der Daten und ihren Vergleich.
– Interpretation: Traditionelle
Indikatoren wie z.B. Handelsbilanzsalden und Exportmarktanteile
büßen einen Teil ihrer Aussagekraft ein, weil sie in dem
durch die Globalisierung selbst veränderten wirtschaftlichen
Umfeld heute anders interpretiert werden müssen.
Die Kommission
hat in mehreren Anhörungen und Diskussionen die Grundlinien
der weltweiten Entwicklung auf den Waren- und
Dienstleistungsmärkten erkundet. Die Anhörungen –
insbesondere die Beiträge von Jungnickel (2000) und Weise
(2000) – ergaben, dass die Analyse der Internationalisierung,
insbesondere im internationalen Vergleich, unter dem Vorbehalt
einer unsicheren und nicht immer eindeutigen Datenbasis steht. Zum
gleichen Ergebnis kamen Gespräche mit Vertretern von
Statistischen Ämtern und Instituten.
Dies zeigt sich
nicht nur beim Außenhandel, sondern auch bei der Analyse der
internationalen Unternehmensverflechtung durch Direktinvestitionen.
Nicht zuletzt aus diesem Grund hat die Kommission einen
Untersuchungsauftrag an eines der führenden deutschen
Wirtschaftsforschungsinstitute vergeben, um die wesentlichen
empirischen Indikatoren der ökonomischen Internationalisierung
darzustellen und durch Grafiken und Schaubilder zu veranschaulichen
(HWWA 2001). Das zusammengetragene Material hat an vielen Stellen
Zusatzinformationen geliefert und ist ein wichtiger Bestandteil
dieses Kapitels geworden.
Nichtsdestotrotz
bleibt die Erfassung und internationale Vergleichbarkeit von Daten
des Außenhandels, der Di rekt investitionen und
der Auslandsproduktion, aber auch der Beschäftigung und der
sozialen Indikatoren mit vielerlei empirischen Messproblemen
verbunden.
3.1.6.1.1 Messprobleme
Zur quantitativen
Beschreibung und Analyse des Globalisierungsphänomens werden
äußerst vielfältige Begriffe, Indikatoren und
analytische Verfahren verwendet. Dabei bleibt das jeweils
gezeichnete Bild der Globalisierung i.d.R. unvollständig. Das
liegt nicht nur an der jeweiligen Auswahl der Indikatoren, sondern
auch an der fehlenden Messbarkeit bestimmter
Globalisierungsaspekte. Hinzu kommen Datenprobleme: Viele Daten
werden nicht oder nur unzureichend, schon gar nicht in allen
Ländern oder erst in jüngerer Zeit systematisch erhoben,
wodurch Analysen lückenhaft und/oder zeitlich beschränkt
bleiben.
Besonders die
Außenwirtschaftsstatistik wenig entwickelter Länder ist
oft ungenau. Die Meldungen ihrer statistischen Ämter erfolgen
oft mit erheblichen Zeitverzögerungen. Ihre internationalen
Transaktionen mit Industrieländern können durch
deren Meldesystem ersatzweise aktuell erfasst werden. Transaktionen
zwischen solchen Ländern bleiben jedoch ungenau. Hinzu kommt
das verbreitete Problem des Schmuggels. Besonders ärmste
Entwicklungsländer bedürfen technischer Hilfe zur
Verbesserung ihres statistischen Apparates.
In einigen
Bereichen werden Daten aus wirtschaftlichen und/oder politischen
Gründen unterdrückt oder verzerrt wiedergegeben. Dazu
gehören z.B. Außenhandelsdaten über
Öllieferungen und Waffen. Transaktionen von regional oder in
einzelnen Branchen dominierenden Unternehmen werden aus
Datenschutzgründen in der Außenhandels- wie in der
Direktinvestitionsstatistik nicht disaggregiert
veröffentlicht. Steuervermeidende oder -mindernde
Verrechnungspreispraktiken ausländischer Unternehmen
füh ren nicht selten in teils erheblichem Maße zu
verzerrten Außenhandelsdaten. Ein besonderes Handicap für
handelspolitische Analysen ist die Intransparenz von Daten
über Handelshemmnisse. Die WTO-interne Datenbank (Integrated
Data Base), die tarifäre und nicht-tarifäre
Handelshemmnisse erfasst, ist extern nicht zugänglich. Hier
sollte ein freier Zugang ermöglicht werden. Die OECD ist 2001
mit der Veröffentlichung ihrer Daten transparenter geworden,
beschränkt sich aber auf Daten ihrer Mitgliedsländer. Die
Erfassung und Quantifizierung der Belastungswirkungen
nicht-tarifärer Hemmnisse (NTB) wirft schwierige methodische
Probleme auf. Das Problem wird durch ihre immer häufigere
Anwendung verschärft, womit teilweise die bei der
tarifären Liberalisierung erzielten Fortschritte kompensiert
werden sollen. Die im Rahmen der WTO eingeleitete Umwandlung von
NTB in Zolläquivalente soll dieses Problem
entschärfen.
Angesichts der
bedeutenden Position der KMU in der Volkswirtschaft, erscheint es
geboten, diese Unternehmensgruppe in den Statistiken der
außenwirtschaftlichen Verflechtung stärker
auszuweisen.
Nach wie vor wird
das Zusammenführen nationaler und internationaler Daten
aufgrund unterschiedlicher Systematiken z.B. für
Wirtschaftszweige und Gütergruppen erschwert. In den letzten
Jahren gab es zahlreiche, jedoch noch nicht in allen Bereichen erfolgreiche
Bemühungen zur weltweiten Standardisierung. Zahlreiche
zentrale wirtschaftliche Tatbestände wie Einkommen,
Beschäftigung, Direktinvestitionen, FuE-Ausgaben,
Dienstleistungen werden nach wie vor unterschiedlich definiert und
abgegrenzt. Die Abstimmung der erheblich divergierenden
Direktinvestitions- und Dienstleistungsstatistiken ist besonders
vordringlich.
Klärungsbedarf besteht auch bei der Umschlüsselung der
Außenhandelsdaten in die aktuelle internationale Nomenklatur
der Industriestatistik (ISIC Rev. 3). Verknüpfungen der in
dieser Gliederung von der OECD ausgewiesenen außen- und
binnenwirtschaftlichen Daten ergeben vielfach widersprüchliche
Ergebnisse wie z.B. Exportquoten und Importpenetrationsraten
für einzelne Branchen, die weit über 100 Prozent
hinausgehen.
Direktinvestitionen: Die internationale
Unternehmensverflechtung durch Direktinvestitionen und
Auslandsproduktion wird wesentlich unvollständiger und
uneinheitlicher erfasst als der Außenhandel. Insbesondere gilt
dies für die mit Direktinvestitionen einhergehenden
grenz überschreitenden Transaktionen und für
operationale Daten der Auslandsgesellschaften. Erhebliche Probleme
bestehen bei der statistischen Erfassung operationaler Daten von
Auslandsgesellschaften. So fehlen Daten auslandskontrollierter
Unternehmen in Deutschland z.B. über ihre letztlichen
Eigentümer (UBO-Konzept), ihre Wertschöpfung, Löhne
und Gehälter und Investitionen, ferner über ihren
gesamten und konzerninternen Außenhandel, ihre Steuerzahlungen
sowie nach Art der Direktinvestitionen (Neugründungen, Ausbau
bestehender Unternehmen, M&A). Auch für
Auslandsgesellschaften deutscher Unternehmen fehlen Angaben zu
Wertschöpfung, Außenhandel, Steuerzahlungen und M&A.
Probleme bereitet die statistische Erfassung der im Ausland
investierenden Gesellschaften („Muttergesellschaften“)
bezüglich Beschäftigung, Umsatz und Wertschöpfung,
Vorleistungsbezug sowie Bezug und Umsatz von Handelsware.
Ein weiteres
Problem stellt die geringe Tiefe der statistischen Untergliederung
insbesondere im Dienstleis tungsbereich dar. Dies erschwert
die Analyse von Internationalisierungsprozessen gerade in den
technologisch anspruchsvollen Bereichen („New Economy“;
Dienstleis tungen überwiegend für Unternehmen;
Nachrichtenübermittlung). Mängel bleiben auch im
harmonisierten System der EU bestehen. Einen wichtigen Ansatzpunkt
für die verbesserte Aussagekraft der
Direktinvestitionsstatis tik könnte eine EU-weite
Harmonisierung der statistischen Erfassung sein. Dies betrifft die
Direktinvestitionen selbst wie auch die operationalen Daten. In
diesem, seit geraumer Zeit laufenden Prozess muss es darum gehen,
eine Harmonisierung nicht auf ein gemeinsames Minimum zu
vereinbaren, sondern eine nachhaltige Aus weitung der
Berichterstattung in der oben genannten Richtung. Ursachen und
Folgen von internationaler Firmentätigkeit lassen sich nur
dann befriedigend empirisch untersuchen, wenn Paneldaten für
die handelnden Einheiten (d.h. Firmen) bereitstehen. Zumindest die
hier bereits in der amtlichen Statistik vorhandenen Informationen
müssten der Wissenschaft zugänglich gemacht und
untereinander verknüpft werden können.
Dienstleistungen: Die
Zahlungsbilanzstatistik hat als Haupt quelle für
den internationalen Dienstleistungsverkehr zahlreiche
Schwächen. Einige, selbst größere Länder
meldeten noch bis vor kurzem keine entsprechenden Daten. Defizite
bestehen bei der Differenzierung nach Dienstleis tungsarten
und Unterschieden in den Erfassungsmethoden. Diese und andere
Probleme führen zu einer Unterschätzung des
tatsächlichen Umfangs des internationalen
Dienstleistungsverkehrs. Die Daten der Zahlungsbilanzstatistik
unterzeichnen das wahre Ausmaß der Expansion der
internationalen Dienstleistungsverflechtung auch deshalb erheblich,
weil sie eine quantitativ bedeutende Erbringungsart nicht erfassen,
nämlich die Erbringung von Dienstleistungen über
Niederlassungen im Ausland (commercial presence).
Ein traditionelles Problem im
Dienstleistungsbereich liegt in der sehr begrenzten
Vergleichbarkeit der Statistik der internationalen Dienstleistungsverflechtung
mit der Dienst leistungsproduktion, wie sie in der
Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der einzelnen Länder
ausgewiesen wird. Die laufende Harmonisierung im Rahmen
internationaler Organisationen (OECD, UN, WTO) hat bereits
erhebliche Fortschritte gebracht. Es bleibt abzuwarten, inwieweit
auf mittlere Sicht genügend Daten vorliegen, um (wie im
Warensektor) international vergleichbare Exportquoten,
Penetrationsraten etc. zu berechnen.
3.1.6.1.2 Interpretationsprobleme
Direktinvestitionen dienen meist dem Erwerb,
dem Ausbau oder dem Aufbau von Unternehmen im Ausland. Sie werden
als jährliche Kapitalströme („Flows“) oder
als Kapitalbestand am Jahresende („Stock“) gemessen.
Beide Größen weisen zwar den Vorteil international
breiter und zeitnaher Datenverfügbarkeit auf; ihre
Aussagekraft als Indikator für die internationale
Unternehmensverflechtung ist jedoch aus mehreren Gründen sehr
begrenzt: Gravierende Unterschiede in den Erfassungsmethoden
behindern die internationale Vergleichbarkeit, die Werte werden
durch die jeweils verfolgte Finanzierungsstrategie der Investoren
sowie durch die Nutzung von Bewertungsspielräumen im Zuge von
Unternehmenszusammenschlüssen verzerrt, und schließlich
steht ihnen keine statistisch direkt vergleichbare inländische
Größe gegenüber. Direktinvestitionen sind nicht mit
realen Investitionen gleichzusetzen. Sie stellen ins Ausland
transferierte Finanzmittel dar, die für reale Investitionen
aufgewendet werden können, aber nicht müssen. Ebenso
können reale Investitionen im Ausland auch anders als durch
Direktinvestitionen finanziert werden, etwa durch lokale
Kreditaufnahme der Auslandsgesellschaften.
Operative Daten der Auslandsgesellschaften
– z.B. Beschäftigte und Umsatz – sind daher besser
geeignete Indikatoren. Sie werden nicht durch Bewertungsfragen und
Finanzstrategien verzerrt und sind direkt mit entsprechenden
nationalen Statistiken vergleichbar. Allerdings liegen sie nur
für wenige Länder vor und dies in unterschiedlichen
Abgrenzungen (Falzoni 2000). Insbesondere bei internationalen
Vergleichen muss daher doch auf die Hilfsgröße
Direktinvestitionen zurückgegriffen werden.
Wenn auch die
Kapitalströme oder -bestände zur Darstellung der
Direktinvestitionen herangezogen werden, so darf daraus nicht der
Schluss gezogen werden, dass der Kapitaltransfer der entscheidende
Faktor für die wirtschaftlichen Auswirkungen der
Internationalisierung von Unternehmen ist. Zumindest in
hochentwickelten Ländern resultieren diese primär aus dem
Transfer von Eigentumsrechten und dem damit einhergehenden Transfer
von technischem, organisatorischem und kaufmännischem Wissen
und aus grenzüberschreitend getroffenen strategischen
Entscheidungen (Lipsey 2000).22 Gerade bei den in hochentwickelten
Ländern dominierenden Fusionen und Übernahmen (M&A)
anstelle von Neugründungen ist für die wirtschaftliche
Auswirkung entscheidend, was der ausländische Investor aus
einer übernommenen Gesellschaft macht und nicht, wie er die
Übernahme finanziert.
Will man Aussagen
über die positive oder negative Betroffenheit durch die
Globalisierung vornehmen, so gilt es u.a., den Zusammenhang
zwischen der Einkommens- und Beschäftigungssituation
einerseits und Veränderungen der internationalen
Wirtschaftsverflechtung andererseits konkret aufzuzeigen. Dies ist
nicht immer eindeutig möglich, da die interessierenden
Größen (z.B. Einkommen und Beschäftigung) auch von
anderen Faktoren als der Globalisierung abhängen. So ist es
methodisch und auch logisch schwierig, Einflüsse der
Globalisierung und der technischen Entwicklung voneinander zu
trennen. Ebenso gilt es zu bedenken, dass es „die“
Effekte „der“ Globalisierung nicht gibt; sie
hängen entscheidend von der Anpassungsfähigkeit der
Betroffenen und von den Rahmenbedingungen ab, die wesentlich von
der Politik gesetzt werden. Die Globalisierung kann die
Auswirkungen der nationalen Wirtschaftspolitik verstärken, zum
Guten wie zum Schlechten. Eine gute oder schlechte wirtschaftliche
Entwicklung kann in der Regel nicht monokausal auf die
Globalisierung zurückgeführt werden.
22 Aus dieser Sicht der Direktinvestitionen folgt, dass
Bestrebungen zur internationalen Harmonisierung von
Direktinvestitionsstatistiken zwar als Hilfslösung sinnvoll
sind; das Hauptaugenmerk bei der Verbesserung der Informationslage
zur Internationalisierung der Wirtschaft sollte jedoch auf
operationalen Daten der Auslandsgesellschaften liegen.
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