*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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3.5.2       Sozialstandards und globale Entwicklung71

Die Verwirklichung politischer und sozialer Menschenrechte sowie die Institutionalisierung von Sozial- und Umweltstandards sind unabdingbar für eine weltweite soziale Entwicklung. Umwelt- und Sozialstandards sind eng miteinander verbunden, da Umweltzerstörung bestehende Armut verschärft (und umgekehrt). So sind es in Entwicklungsländern häufig die Ärmsten, die unter lokalen Umweltproblemen wie Trinkwasserknappheit oder Bodendegradation zu leiden haben.

„Umweltstandards“ haben folglich zum Ziel, einen vor-sorgenden Umweltschutz und einen nachhaltigen Um-gang mit natürlichen Ressourcen durchzusetzen (Jus­ titia et Pax 2001: 18f.). „Sozialstandards“ ist ein umfassender und allgemeiner Begriff für Standards bei der Ausgestaltung von Arbeitsverträgen (Arbeitszeit, Lohn, Sozialversicherung etc.) und für Arbeitnehmerrechte.

   Solche Standards können durch völkerrechtliche Verträge gesetzt werden; sie können durch einen rechtsverbindlichen Beschluss, eine Resolution oder Empfehlung internationaler Organisationen entstehen, sowie den Inhalt von Verhaltenskodizes einzelner Unternehmen oder internationaler Unternehmensverbände bilden. „Sozialstandards“ präzisieren und konkretisieren wirtschaftliche und soziale Menschenrechte.

Der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) kommt die Aufgabe zu, für eine sozialpolitische Ausrichtung des globalen Wettbewerbs durch universelle soziale Mindeststandards in der Arbeitswelt zu sorgen. Mit der „Erklärung der ILO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihre Folgemaßnahmen“ vom Juni 1998 sind die Kernarbeitsnormen festgelegt worden. Kernarbeitsnormen (Core Labour Standards) ist der Sammelbegriff für soziale Mindeststandards wie Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungsrecht, Verbot von Zwangsarbeit, Kinder­ arbeit und Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.

Die Enquete-Kommission hat eine Reihe von Gutachten zur Regulierung von Arbeit und Arbeitsbedingungen auf internationaler Ebene vergeben (Bullard 2001, Sautter 2001, Scherrer, Greven 2001) und damit den Sachstand bei der Entwicklung und Anwendung von Sozialstandards untersucht. Diesen Expertisen zufolge wird mit der Durchsetzung von Sozialstandards der Weg zu einer globalen Sozialordnung beschritten. Zudem ermöglichen Sozialstandards eine bessere Verteilung von Wohlfahrtszuwächsen. Unlauterer Wettbewerb insbesondere zwischen Entwicklungsländern, der mit der Nichteinhaltung von Kernarbeitsnormen einhergeht, verhindert langfristige Produktivitätsfortschritte.

Kernarbeitsnormen stellen die Grundbedingungen der Handels- und Investitionsliberalisierung nicht in Frage. Es stellt sich die Frage, ob wirtschaftliche Entwicklung und Expansion der Exportwirtschaft notwendigerweise zur stärkeren Beachtung der Menschenrechte im Allgemeinen und der Kernarbeitsnormen im Besonderen führt. Einige Studien und Beiträge zeigen, dass zwischen anhaltender Handelsliberalisierung und der Anerkennung und Durchsetzung von Kernarbeitsnormen ein eher positiver Zusammenhang existiert (Windfuhr 2001, OECD 1996b, OECD 2000g, Martin 2001). Die Jahresberichte von Amnesty International und des Internationalen Bunds Freier Gewerkschaften vermelden jedoch eine Zunahme an Verstößen gegen die Kernarbeitsnormen (Amnesty International 2000; ICFTU 2000b).

Der OECD-Ministerrat betonte schon 1998, die Integration grundlegender Arbeitnehmer- und Menschenrechte in das multilaterale Handels- und Investitionsregime sei das fehlende Glied in der Kette zwischen Handelsliberalisierung und gerechter Verteilung ihrer Erträge. Freilich ist nicht zu übersehen, dass gerade in den Entwicklungsländern große Widerstände gegenüber der multilateralen Durchsetzung von Sozialstandards existieren (Singh, Zammit 1999). Hier werden vielfach Hürden für den industriellen Aufhol­ prozess befürchtet. Betont wird auch, dass bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht per Gesetz oder durch internationale Abkommen verordnet werden könnten. Diese ergäben sich vielmehr erst im Gefolge der wirtschaftlichen Entwicklung, die wiederum im Rahmen einer internationalen Kooperation vorangebracht werden sollte.

Trotz der in der Literatur vereinzelt unterschiedlichen Betonung und auch differierender Interpretationen empirischer Gegebenheiten ist die Enquete-Kommission der Auffassung, dass die internationale Verankerung und Anwendung von Sozialstandards – insbesondere die Durchsetzung von Mindestnormen im Arbeitsleben – keine inakzeptablen volkswirtschaftlichen Nachteile aus mittel- und langfristiger Sicht mit sich bringt – bei den Kernarbeitsnormen handelt es sich um Mindestnormen qualitativer Natur. Die Anhörungen der Kommission haben gezeigt, dass es gerade für die Entwicklungsländer von Vorteil ist, soziale Schutzrechte zu entwickeln und sie in ihrer Gesetzgebung zu verankern. So kann davon ausgegangen werden, dass die Einhaltung von Kernnormen die langfristige Wirtschaftsleistung aller Länder stärkt (Scherrer, Greven 2000, Martin 2001).

Langfristige Produktivitätsfortschritte in Entwicklungsländern sind notwendig, um das Entwicklungsgefälle zu Industrieländern abbauen zu können. Eine wichtige Rolle beim Ziel der allgemeinen Wohlstandssteigerung und beim Abbau bestehender weltweiter Disparitäten spielt der Zugang und die Nutzung von Wissen und die damit verbundene Notwendigkeit von schulischer Ausbildung und Qualifikation. Die Abschaffung von Kinderarbeit ist folglich sowohl aus Sicht der Menschenwürde als auch hinsichtlich der langfristigen Entwicklungspotenziale eines Landes von höchster Bedeutung (vgl. SPD 1996). Die Beachtung von Sozialstandards trägt zudem zu einer Steigerung der ausländischen Direktinvestitionen im Inland bei, da diese bevorzugt in einem stabilen gesellschaftlichen Umfeld getätigt werden. Auch die Befürchtungen mancher, es werde zu einer fatalen Abwärtsspirale bei den sozialen Bedingungen („Race to the Bottom“) kommen, können durch Kernarbeitsnormen verringert werden. Generell verbessert die Einführung von Sozialstandards auch die Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung – und vice versa.

Die Debatte über verbindliche Kernarbeitsnormen, die bislang in der WTO auf deutliche Ablehnung vieler Entwicklungsländern stößt (Windfuhr 2001, Sautter 2001), ist stark auf die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) fokussiert. Parallel hierzu ist die Debatte über Sozialstandards im internationalen Handel intensiviert worden. Hier ist insbesondere die Forderung der internationalen Gewerkschaftsbewegung relevant, eine Sozialklausel in Handelsvereinbarungen zu integrieren und einen WTO-Ausschuss zum Thema „Handel und Kernarbeitsnormen“ einzurichten. Die Gewerkschaften und viele Nichtregierungsorganisationen (NGO) sowie kirchliche Vertreter sowohl aus OECD-Ländern als auch aus Entwicklungsländern befürworten eine Berücksichtigung von Kernarbeitsnormen in Handelsvereinbarungen.

Die Deklaration der ILO zu den Kernarbeitsnormen hat den Druck auf die Mitgliedsstaaten verstärkt, die noch nicht alle zu den Kernarbeitsnormen gehörenden Konventionen ratifiziert haben, diese nunmehr zu ratifizieren    und damit verbindlich zu machen (vgl. Enquete-Kommission „Globalisierung“ (2001c: 74ff.). Aufgrund der Langwierigkeit der Ratifizierungsprozesse und der fehlenden Umsetzungsmöglichkeit wird die ILO allein dieser Rolle jedoch nicht gerecht und deshalb als „zahnloser Tiger“ angesehen. Das deshalb kürzlich eingerichtete Globale Forum für soziale Entwicklung muss ein klares politisches Mandat erhalten, um auch handlungsfähig zu werden. Festzustellen ist aber, dass die internationale Anerkennung der Kernarbeitsnormen in den letzten Jahren erheblich gewachsen ist, wie die zunehmende Zahl der Ratifizierungen der ILO-Grundübereinkünfte zeigt. Schließlich erneuerten die Mitgliedsländer der WTO im Punkt Nr. 4 der Abschlusserklärung der ersten Ministerkonferenz der WTO, die im Dezember 1996 in Singapur abgehalten wurde, ihre „Verpflichtung, die international anerkannten Kernarbeitsstandards einzuhalten“ (WTO 2001a). Im Kommuniqué des Weltwirtschaftsgipfels in Köln (1999) erklären die G 8 in analoger Weise:

„Wir verpflichten uns, die wirksame Umsetzung der Erklärung der ILO über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und ihrer Folgemaßnahmen zu fördern. (...) Darüber hinaus betonen wir die Bedeutung einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen der WTO und der ILO hinsichtlich der sozialen Dimension der Globalisierung und der Handelsliberalisierung“ (G8 1999).



71 Vgl. hierzu auch das Minderheitenvotum der FDP-Fraktion in Kapitel 11.2.2.3.3.

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