3.5.2
Sozialstandards und globale Entwicklung71
Die Verwirklichung politischer und sozialer
Menschenrechte sowie die Institutionalisierung von Sozial- und
Umweltstandards sind unabdingbar für eine weltweite soziale
Entwicklung. Umwelt- und Sozialstandards sind eng miteinander
verbunden, da Umweltzerstörung bestehende Armut
verschärft (und umgekehrt). So sind es in
Entwicklungsländern häufig die Ärmsten, die unter
lokalen Umweltproblemen wie Trinkwasserknappheit oder
Bodendegradation zu leiden haben.
„Umweltstandards“ haben folglich
zum Ziel, einen vor-sorgenden Umweltschutz und einen nachhaltigen
Um-gang mit natürlichen Ressourcen durchzusetzen (Jus
titia et Pax 2001: 18f.). „Sozialstandards“ ist ein
umfassender und allgemeiner Begriff für Standards bei der
Ausgestaltung von Arbeitsverträgen (Arbeitszeit, Lohn,
Sozialversicherung etc.) und für Arbeitnehmerrechte.
Solche Standards können durch
völkerrechtliche Verträge gesetzt werden; sie können
durch einen rechtsverbindlichen Beschluss, eine Resolution oder
Empfehlung internationaler Organisationen entstehen, sowie den
Inhalt von Verhaltenskodizes einzelner Unternehmen oder
internationaler Unternehmensverbände bilden.
„Sozialstandards“ präzisieren und konkretisieren
wirtschaftliche und soziale Menschenrechte.
Der Internationale Arbeitsorganisation (ILO)
kommt die Aufgabe zu, für eine sozialpolitische Ausrichtung
des globalen Wettbewerbs durch universelle soziale Mindeststandards
in der Arbeitswelt zu sorgen. Mit der „Erklärung der ILO
über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und
ihre Folgemaßnahmen“ vom Juni 1998 sind die
Kernarbeitsnormen festgelegt worden. Kernarbeitsnormen (Core Labour
Standards) ist der Sammelbegriff für soziale Mindeststandards
wie Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungsrecht, Verbot von
Zwangsarbeit, Kinder arbeit und Diskriminierung in
Beschäftigung und Beruf.
Die Enquete-Kommission hat eine Reihe von
Gutachten zur Regulierung von Arbeit und Arbeitsbedingungen auf
internationaler Ebene vergeben (Bullard 2001, Sautter 2001,
Scherrer, Greven 2001) und damit den Sachstand bei der Entwicklung
und Anwendung von Sozialstandards untersucht. Diesen Expertisen
zufolge wird mit der Durchsetzung von Sozialstandards der Weg zu
einer globalen Sozialordnung beschritten. Zudem ermöglichen
Sozialstandards eine bessere Verteilung von
Wohlfahrtszuwächsen. Unlauterer Wettbewerb insbesondere
zwischen Entwicklungsländern, der mit der Nichteinhaltung von
Kernarbeitsnormen einhergeht, verhindert langfristige
Produktivitätsfortschritte.
Kernarbeitsnormen stellen die
Grundbedingungen der Handels- und Investitionsliberalisierung nicht
in Frage. Es stellt sich die Frage, ob wirtschaftliche Entwicklung
und Expansion der Exportwirtschaft notwendigerweise zur
stärkeren Beachtung der Menschenrechte im Allgemeinen und der
Kernarbeitsnormen im Besonderen führt. Einige Studien und
Beiträge zeigen, dass zwischen anhaltender
Handelsliberalisierung und der Anerkennung und Durchsetzung von
Kernarbeitsnormen ein eher positiver Zusammenhang existiert
(Windfuhr 2001, OECD 1996b, OECD 2000g, Martin 2001). Die
Jahresberichte von Amnesty International und des Internationalen
Bunds Freier Gewerkschaften vermelden jedoch eine Zunahme an
Verstößen gegen die Kernarbeitsnormen (Amnesty
International 2000; ICFTU 2000b).
Der OECD-Ministerrat betonte schon 1998, die
Integration grundlegender Arbeitnehmer- und Menschenrechte in das
multilaterale Handels- und Investitionsregime sei das fehlende
Glied in der Kette zwischen Handelsliberalisierung und gerechter
Verteilung ihrer Erträge. Freilich ist nicht zu
übersehen, dass gerade in den Entwicklungsländern
große Widerstände gegenüber der multilateralen
Durchsetzung von Sozialstandards existieren (Singh, Zammit 1999).
Hier werden vielfach Hürden für den industriellen
Aufhol prozess befürchtet. Betont wird auch, dass
bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht per Gesetz oder durch
internationale Abkommen verordnet werden könnten. Diese
ergäben sich vielmehr erst im Gefolge der wirtschaftlichen
Entwicklung, die wiederum im Rahmen einer internationalen
Kooperation vorangebracht werden sollte.
Trotz der in der Literatur vereinzelt
unterschiedlichen Betonung und auch differierender Interpretationen
empirischer Gegebenheiten ist die Enquete-Kommission der
Auffassung, dass die internationale Verankerung und Anwendung von
Sozialstandards – insbesondere die Durchsetzung von
Mindestnormen im Arbeitsleben – keine inakzeptablen
volkswirtschaftlichen Nachteile aus mittel- und langfristiger Sicht
mit sich bringt – bei den Kernarbeitsnormen handelt es sich
um Mindestnormen qualitativer Natur. Die Anhörungen der
Kommission haben gezeigt, dass es gerade für die
Entwicklungsländer von Vorteil ist, soziale Schutzrechte zu
entwickeln und sie in ihrer Gesetzgebung zu verankern. So kann
davon ausgegangen werden, dass die Einhaltung von Kernnormen die
langfristige Wirtschaftsleistung aller Länder stärkt
(Scherrer, Greven 2000, Martin 2001).
Langfristige Produktivitätsfortschritte
in Entwicklungsländern sind notwendig, um das
Entwicklungsgefälle zu Industrieländern abbauen zu
können. Eine wichtige Rolle beim Ziel der allgemeinen
Wohlstandssteigerung und beim Abbau bestehender weltweiter
Disparitäten spielt der Zugang und die Nutzung von Wissen und
die damit verbundene Notwendigkeit von schulischer Ausbildung und
Qualifikation. Die Abschaffung von Kinderarbeit ist folglich sowohl
aus Sicht der Menschenwürde als auch hinsichtlich der
langfristigen Entwicklungspotenziale eines Landes von höchster
Bedeutung (vgl. SPD 1996). Die Beachtung von Sozialstandards
trägt zudem zu einer Steigerung der ausländischen
Direktinvestitionen im Inland bei, da diese bevorzugt in einem
stabilen gesellschaftlichen Umfeld getätigt werden. Auch die
Befürchtungen mancher, es werde zu einer fatalen
Abwärtsspirale bei den sozialen Bedingungen („Race to
the Bottom“) kommen, können durch Kernarbeitsnormen
verringert werden. Generell verbessert die Einführung von
Sozialstandards auch die Bedingungen für die wirtschaftliche
Entwicklung – und vice versa.
Die Debatte über verbindliche
Kernarbeitsnormen, die bislang in der WTO auf deutliche Ablehnung
vieler Entwicklungsländern stößt (Windfuhr 2001,
Sautter 2001), ist stark auf die Internationale Arbeitsorganisation
(ILO) fokussiert. Parallel hierzu ist die Debatte über
Sozialstandards im internationalen Handel intensiviert worden. Hier
ist insbesondere die Forderung der internationalen
Gewerkschaftsbewegung relevant, eine Sozialklausel in
Handelsvereinbarungen zu integrieren und einen WTO-Ausschuss zum
Thema „Handel und Kernarbeitsnormen“ einzurichten. Die
Gewerkschaften und viele Nichtregierungsorganisationen (NGO) sowie
kirchliche Vertreter sowohl aus OECD-Ländern als auch aus
Entwicklungsländern befürworten eine
Berücksichtigung von Kernarbeitsnormen in
Handelsvereinbarungen.
Die Deklaration
der ILO zu den Kernarbeitsnormen hat den Druck auf die
Mitgliedsstaaten verstärkt, die noch nicht alle zu den
Kernarbeitsnormen gehörenden Konventionen ratifiziert haben,
diese nunmehr zu ratifizieren und damit verbindlich zu machen (vgl.
Enquete-Kommission „Globalisierung“ (2001c: 74ff.).
Aufgrund der Langwierigkeit der Ratifizierungsprozesse und der
fehlenden Umsetzungsmöglichkeit wird die ILO allein dieser
Rolle jedoch nicht gerecht und deshalb als „zahnloser
Tiger“ angesehen. Das deshalb kürzlich eingerichtete
Globale Forum für soziale Entwicklung muss ein klares
politisches Mandat erhalten, um auch handlungsfähig zu werden.
Festzustellen ist aber, dass die internationale Anerkennung der
Kernarbeitsnormen in den letzten Jahren erheblich gewachsen ist,
wie die zunehmende Zahl der Ratifizierungen der
ILO-Grundübereinkünfte zeigt. Schließlich erneuerten
die Mitgliedsländer der WTO im Punkt Nr. 4 der
Abschlusserklärung der ersten Ministerkonferenz der WTO, die
im Dezember 1996 in Singapur abgehalten wurde, ihre
„Verpflichtung, die international anerkannten
Kernarbeitsstandards einzuhalten“ (WTO 2001a). Im
Kommuniqué des Weltwirtschaftsgipfels in Köln (1999)
erklären die G 8 in analoger Weise:
„Wir
verpflichten uns, die wirksame Umsetzung der Erklärung der ILO
über grundlegende Prinzipien und Rechte bei der Arbeit und
ihrer Folgemaßnahmen zu fördern. (...) Darüber
hinaus betonen wir die Bedeutung einer wirksamen Zusammenarbeit
zwischen der WTO und der ILO hinsichtlich der sozialen Dimension
der Globalisierung und der Handelsliberalisierung“ (G8
1999).
71 Vgl. hierzu auch das Minderheitenvotum der
FDP-Fraktion in Kapitel
11.2.2.3.3.
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