*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

 zurück weiter  Kapiteldownload  Übersicht 


3.5.2.1    Handel und Sozialstandards

Grundsätzlich ist zwischen qualitativen und quantitativen Sozialstandards zu unterscheiden. Während die als (qualitative) Kernarbeitsnormen international anerkannten Sozialstandards den Charakter von universellen Menschenrechten besitzen, die für alle Länder unabhängig vom Stand der wirtschaftlichen Entwicklung Gültigkeitsanspruch erheben, umfassen quantitative Sozialstandards beispielsweise Regelungen über Arbeitszeiten, Löhne und Gesundheitsbestimmungen. Zu letzteren zählen u.a. die Vereinbarung über die 48-Stunden-Woche der ILO des Jahres 1919 oder etwa die Existenz von Mindestlöhnen in den USA.

Über die Kernarbeitsnormen hinaus haben sich in einzelnen Weltregionen zum Teil hochentwickelte quantitative Sozialstandards durchsetzen können, die auch grenzüberschreitend Gültigkeit besitzen, wie etwa die „EU Sozialcharta“, die wichtige Rechte der Arbeitnehmer schützt.72 Auch in der „Charta der Grundrechte“ der Europäischen Union wurden wirtschaftliche und soziale Rechte sowie Prinzipien der Sozialcharta erneut verankert.

Eine vollständige Harmonisierung der Sozialstandards in der Europäischen Union ist jedoch nicht beabsichtigt, da Mitgliedstaaten eigenständig auf ihre eigenen sozialen Probleme reagieren können sollen. Damit es aber im europäischen Binnenmarkt nicht zu einem unlauteren Wettbewerb auf Kosten der sozialen Errungenschaften kommt, legt die Europäische Union qualitative und quantitative Mindeststandards fest, die ein möglichst hohes gemeinsames Schutzniveau für Arbeitnehmer in allen Mitgliedstaaten gewährleisten sollen. Mitgliedstaaten, die umfangreichere Schutzbestimmungen vorsehen, können diese beibehalten.

Die Europäische Union nahm im Jahre 1994 auch eine Sozialklausel in ihr allgemeines Präferenzsystem im Außenhandel (APS) auf. In Anwendung dieser Klausel wurde im Jahre 1997 Burma aus der Liste der begünstigten Entwicklungsländer gestrichen. Die EU hat sich vor der Ministerkonferenz in Seattle dafür eingesetzt, die Kernarbeitsnormen im WTO-Regime zu verankern. Darüber hinaus setzt die EU positive Anreize für Entwicklungsländer, um die Beachtung der Kernarbeitsnormen weltweit voranzubringen.

Das EU-Freihandelsabkommen mit Südafrika sowie die EU-Verhandlungsleitlinien für ein Freihandelsabkommen mit Mercosur nahmen erstmals grundlegende Arbeitsnormen und deren Überwachung in Beziehung zum Freihandel auf. Das neue Cotonou-Abkommen (Freihandelsabkommen der EU mit den AKP-Staaten) vom 23. 6. 2000 verweist sowohl in der Präambel als auch im Artikel 50 auf die Beziehung zwischen Handel und Kernarbeitsnormen. Die Hauptziele des Abkommens sind die Bekämpfung von Armut, eine nachhaltige Entwicklung und die schrittweise Integration der AKP-Länder in die Weltwirtschaft, während die AKP-Länder verpflichtet wurden, eine entwicklungspolitische Strategie aufzubauen.

Das im Herbst 2001 revidierte Allgemeine Präferenzsys­ tem der Europäischen Union fördert die Schaffung und Einhaltung der international anerkannten ILO-Konventionen zum Verbot der Zwangsarbeit, zum Verbot der ausbeuterischen Formen der Kinderarbeit, zur Nicht-Diskriminierung am Arbeitsplatz sowie zu den Grundrechten der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit mit zusätzlichen Zollerleichterungen. Gleichzeitig wurde das ILO-Überwachungsverfahren gestärkt. Fällt die Internationale Arbeitsorganisation nach regelmäßiger und systematischer Verletzung von Kernarbeitsnormen die Entscheidung, dass gegen das jeweilige Land Beschwerde eingereicht wird, kann die Europäische Union ein Verfahren zur Zurücknahme der Zollerleichterungen einleiten.

Ein wesentlicher Grund für die Bindung von Sozialstandards an handelspolitische Vereinbarung ist die prinzipiell erhöhte Sanktionsfähigkeit. Der bloße Anreiz der Hilfe und die Sanktion des Reputationsverlustes werden dagegen als unzureichende Instrumente angesehen, um die weltweite Durchsetzung von Sozialstandards zu erreichen. Tatsächliche oder angedrohte handelspolitische Sanktionen gelten als wirksamer, wie die Beendigung des Apartheidregimes in Südafrika gezeigt hat.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Durchsetzung von grundlegenden Sozialstandards und insbesondere von Kernarbeitsnormen in den Entwicklungsländern aus folgenden Gründen wichtig ist:

–       Positive Einkommenseffekte für Arbeitnehmer (dies gilt zunächst nur für Arbeitnehmer, die bereits Arbeitsplätze im formalen Sektor innehaben). Hierbei spielen freie und unabhängige Gewerkschaften eine wichtige Rolle.

–    Abbau von Kinderarbeit und Zwangsarbeit. Damit wird der Weg für Ausbildung und den Aufbau von Wissen geebnet, was für die langfristige Entwicklung eines Landes unabdingbar ist.

–    Tendenzielle Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation marginalisierter Gruppen (z. B. Kontraktarbeiter, Kinder, Frauen).

–    Stärkung der Gleichbehandlung von Frauen. Dies führt zu einer Stärkung ihrer wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung.

–    Stärkung und Anerkennung der Rolle von Gewerkschaften als Beitrag zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft.

–    Förderung der Bildung eines Rechtsstaates und seiner Institutionen (wobei auch umgekehrt gilt, dass Rechtsstaatlichkeit und funktionierende Institutionen Voraussetzungen für die Durchsetzung bzw. die Akzeptanz von Kernarbeitsnormen sind).

–    Vermeidung von unlauterem Wettbewerb zwischen den Entwicklungsländern.

–    Menschenrechtsverletzungen können langfristig die Absatzchancen senken, da das Verbraucherverhalten sich zunehmend „fairem Handel“ zuwendet.

–    Der Schulbesuch von Mädchen, der durch das Verbot von Kinderarbeit ermöglicht wird, wirkt sich positiv auf die Steuerung des Bevölkerungswachstums in Entwicklungsländern aus.

Grundsätzlich empfiehlt die Enquete-Kommission die Verankerung von Sozialstandards in das System der Welthandelsorganisation (WTO) als wichtiges Instrument, da mit der Durchsetzung von Kernarbeitsnormen im internationalen Handel prinzipiell auch die Bedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung verbessert werden. Auf lange Sicht kann dies die Wettbewerbsfähigkeit und die Produktivität und damit den Lebensstandard erhöhen. Umstritten bleibt jedoch die Art und Weise der Durchsetzung und des Monitorings von Sozialstandards. Dies gilt insbesondere für die Frage einer angemessenen Strategie der Verankerung von sozialen Mindeststandards in Entwicklungsländern und ihre praktische Umsetzung.

Eine Koordinierung der Politik zwischen den internationalen Organisationen ist eine wesentliche Voraussetzung für einen Fortschritt in der Armutsbekämpfung. Es muss eine Strategie entwickelt werden, wie die Beziehung zwischen Handel und entwicklungshemmenden Problemen wie Verschuldung, Seuchen, Armut und Waffenhandel angegangen werden kann. Zudem müssen die Kernarbeitsnormen als Teil der Menschenrechte in allen relevanten internationalen Vertragswerken und Organisationen be­ rücksichtigt werden. Nur eine koordinierte Aktion der internationalen Organisationen wird zu mehr Kohärenz der Politiken für eine soziale Dimension der Weltwirtschaftsordnung führen.



72 Dazu gehören das Recht auf freie Berufsausübung und gleiche Behandlung, der Anspruch auf einen Arbeitsvertrag, bezahlten Jahresurlaub und wöchentliche Ruhezeit, das Recht auf ein Mindesteinkommen bei Arbeitslosigkeit und im Rentenalter, die Begrenzung der Wochenarbeitszeit, das Recht auf Information, Mitsprache und Mitwirkung im Betrieb, auf Gesundheits- und Sicherheitsschutz am Arbeitsplatz sowie das Recht auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft.

zurück zum Text



 zurück weiter  Top  Übersicht 


Volltextsuche