3.5.2.1 Handel und
Sozialstandards
Grundsätzlich ist zwischen qualitativen und quantitativen
Sozialstandards zu unterscheiden. Während die als
(qualitative) Kernarbeitsnormen international anerkannten
Sozialstandards den Charakter von universellen Menschenrechten
besitzen, die für alle Länder unabhängig vom Stand
der wirtschaftlichen Entwicklung Gültigkeitsanspruch erheben,
umfassen quantitative Sozialstandards beispielsweise Regelungen
über Arbeitszeiten, Löhne und Gesundheitsbestimmungen. Zu
letzteren zählen u.a. die Vereinbarung über die
48-Stunden-Woche der ILO des Jahres 1919 oder etwa die Existenz von
Mindestlöhnen in den USA.
Über die
Kernarbeitsnormen hinaus haben sich in einzelnen Weltregionen zum
Teil hochentwickelte quantitative Sozialstandards durchsetzen
können, die auch grenzüberschreitend Gültigkeit
besitzen, wie etwa die „EU Sozialcharta“, die wichtige
Rechte der Arbeitnehmer schützt.72 Auch in der „Charta der
Grundrechte“ der Europäischen Union wurden
wirtschaftliche und soziale Rechte sowie Prinzipien der
Sozialcharta erneut verankert.
Eine
vollständige Harmonisierung der Sozialstandards in der
Europäischen Union ist jedoch nicht beabsichtigt, da
Mitgliedstaaten eigenständig auf ihre eigenen sozialen
Probleme reagieren können sollen. Damit es aber im
europäischen Binnenmarkt nicht zu einem unlauteren Wettbewerb
auf Kosten der sozialen Errungenschaften kommt, legt die
Europäische Union qualitative und quantitative
Mindeststandards fest, die ein möglichst hohes gemeinsames
Schutzniveau für Arbeitnehmer in allen Mitgliedstaaten
gewährleisten sollen. Mitgliedstaaten, die umfangreichere
Schutzbestimmungen vorsehen, können diese beibehalten.
Die Europäische Union nahm im Jahre 1994
auch eine Sozialklausel in ihr allgemeines Präferenzsystem im
Außenhandel (APS) auf. In Anwendung dieser Klausel wurde im
Jahre 1997 Burma aus der Liste der begünstigten
Entwicklungsländer gestrichen. Die EU hat sich vor der
Ministerkonferenz in Seattle dafür eingesetzt, die
Kernarbeitsnormen im WTO-Regime zu verankern. Darüber hinaus
setzt die EU positive Anreize für Entwicklungsländer, um
die Beachtung der Kernarbeitsnormen weltweit voranzubringen.
Das EU-Freihandelsabkommen mit Südafrika
sowie die EU-Verhandlungsleitlinien für ein
Freihandelsabkommen mit Mercosur nahmen erstmals grundlegende
Arbeitsnormen und deren Überwachung in Beziehung zum
Freihandel auf. Das neue Cotonou-Abkommen (Freihandelsabkommen der
EU mit den AKP-Staaten) vom 23. 6. 2000 verweist sowohl in der
Präambel als auch im Artikel 50 auf die Beziehung zwischen
Handel und Kernarbeitsnormen. Die Hauptziele des Abkommens sind die
Bekämpfung von Armut, eine nachhaltige Entwicklung und die
schrittweise Integration der AKP-Länder in die Weltwirtschaft,
während die AKP-Länder verpflichtet wurden, eine
entwicklungspolitische Strategie aufzubauen.
Das im Herbst 2001 revidierte Allgemeine
Präferenzsys tem der Europäischen Union
fördert die Schaffung und Einhaltung der international
anerkannten ILO-Konventionen zum Verbot der Zwangsarbeit, zum
Verbot der ausbeuterischen Formen der Kinderarbeit, zur
Nicht-Diskriminierung am Arbeitsplatz sowie zu den Grundrechten der
Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit mit zusätzlichen
Zollerleichterungen. Gleichzeitig wurde das
ILO-Überwachungsverfahren gestärkt. Fällt die
Internationale Arbeitsorganisation nach regelmäßiger und
systematischer Verletzung von Kernarbeitsnormen die Entscheidung,
dass gegen das jeweilige Land Beschwerde eingereicht wird, kann die
Europäische Union ein Verfahren zur Zurücknahme der
Zollerleichterungen einleiten.
Ein wesentlicher Grund für die Bindung
von Sozialstandards an handelspolitische Vereinbarung ist die
prinzipiell erhöhte Sanktionsfähigkeit. Der bloße
Anreiz der Hilfe und die Sanktion des Reputationsverlustes werden
dagegen als unzureichende Instrumente angesehen, um die weltweite
Durchsetzung von Sozialstandards zu erreichen. Tatsächliche
oder angedrohte handelspolitische Sanktionen gelten als wirksamer,
wie die Beendigung des Apartheidregimes in Südafrika gezeigt
hat.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass
die Durchsetzung von grundlegenden Sozialstandards und insbesondere
von Kernarbeitsnormen in den Entwicklungsländern aus folgenden
Gründen wichtig ist:
– Positive
Einkommenseffekte für Arbeitnehmer (dies gilt zunächst
nur für Arbeitnehmer, die bereits Arbeitsplätze im
formalen Sektor innehaben). Hierbei spielen freie und
unabhängige Gewerkschaften eine wichtige Rolle.
– Abbau von
Kinderarbeit und Zwangsarbeit. Damit wird der Weg für
Ausbildung und den Aufbau von Wissen geebnet, was für die
langfristige Entwicklung eines Landes unabdingbar ist.
– Tendenzielle
Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation
marginalisierter Gruppen (z. B. Kontraktarbeiter, Kinder,
Frauen).
– Stärkung der
Gleichbehandlung von Frauen. Dies führt zu einer Stärkung
ihrer wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen und
gesellschaftlichen Stellung.
– Stärkung und
Anerkennung der Rolle von Gewerkschaften als Beitrag zum Aufbau
einer demokratischen Gesellschaft.
– Förderung der
Bildung eines Rechtsstaates und seiner Institutionen (wobei auch
umgekehrt gilt, dass Rechtsstaatlichkeit und funktionierende
Institutionen Voraussetzungen für die Durchsetzung bzw. die
Akzeptanz von Kernarbeitsnormen sind).
– Vermeidung von
unlauterem Wettbewerb zwischen den Entwicklungsländern.
–
Menschenrechtsverletzungen können langfristig die
Absatzchancen senken, da das Verbraucherverhalten sich zunehmend
„fairem Handel“ zuwendet.
– Der Schulbesuch
von Mädchen, der durch das Verbot von Kinderarbeit
ermöglicht wird, wirkt sich positiv auf die Steuerung des
Bevölkerungswachstums in Entwicklungsländern aus.
Grundsätzlich empfiehlt die
Enquete-Kommission die Verankerung von Sozialstandards in das
System der Welthandelsorganisation (WTO) als wichtiges Instrument,
da mit der Durchsetzung von Kernarbeitsnormen im internationalen
Handel prinzipiell auch die Bedingungen für die
wirtschaftliche Entwicklung verbessert werden. Auf lange Sicht kann
dies die Wettbewerbsfähigkeit und die Produktivität und
damit den Lebensstandard erhöhen. Umstritten bleibt jedoch die
Art und Weise der Durchsetzung und des Monitorings von
Sozialstandards. Dies gilt insbesondere für die Frage einer
angemessenen Strategie der Verankerung von sozialen
Mindeststandards in Entwicklungsländern und ihre praktische
Umsetzung.
Eine Koordinierung der Politik zwischen den
internationalen Organisationen ist eine wesentliche Voraussetzung
für einen Fortschritt in der Armutsbekämpfung. Es muss
eine Strategie entwickelt werden, wie die Beziehung zwischen Handel
und entwicklungshemmenden Problemen wie Verschuldung, Seuchen,
Armut und Waffenhandel angegangen werden kann. Zudem müssen
die Kernarbeitsnormen als Teil der Menschenrechte in allen
relevanten internationalen Vertragswerken und Organisationen
be rücksichtigt werden. Nur eine koordinierte Aktion der
internationalen Organisationen wird zu mehr Kohärenz der
Politiken für eine soziale Dimension der
Weltwirtschaftsordnung führen.
72 Dazu gehören das Recht auf freie
Berufsausübung und gleiche Behandlung, der Anspruch auf einen
Arbeitsvertrag, bezahlten Jahresurlaub und wöchentliche
Ruhezeit, das Recht auf ein Mindesteinkommen bei Arbeitslosigkeit
und im Rentenalter, die Begrenzung der Wochenarbeitszeit, das Recht
auf Information, Mitsprache und Mitwirkung im Betrieb, auf
Gesundheits- und Sicherheitsschutz am Arbeitsplatz sowie das Recht
auf eine Gewerkschaftsmitgliedschaft.
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