Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 23-24 / 01.06.2004
Oliver Heilwagen

Reden wie in England

"Jugend debattiert" schlagfertig und mit Leidenschaft
Die Kunst der freien Rede ist nicht gerade eine deutsche Nationaltugend. Hierzulande werden Referate meist vom Blatt abgelesen: Was auf dem Papier noch elegantes Schriftdeutsch war, wirkt im Vortrag oft hölzern und schwer verständlich. Auch die zahllosen Podiumsdiskussionen und Talkshows hören sich kaum besser an. Entweder geraten sie zu langatmigen Verhören, bei denen die Teilnehmer der Reihe nach abgefragt werden, oder sie fallen sich gegenseitig ins Wort und reden aneinander vorbei, um sich selbst darzustellen. Das ist kein Wunder: Das Vermögen, in freier Rede und Gegenrede ein Thema zu entwickeln und dabei die Regeln guter Gesprächsführung zu beachten, wird im deutschen Bildungssystem kaum vermittelt.

Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum: Dort treten viele Schüler und Studenten so genannten "debating societies" bei. In diesen Zirkeln feilen sie an ihren rhetorischen Fähigkeiten, um dann bei öffentlichen Streitgesprächen ihre Meinung möglichst überzeugend zu vertreten. Dieses Vorbild muss Bundespräsident Johannes Rau im Sinn gehabt haben, als er vor drei Jahren den Bundeswettbewerb "Jugend debattiert" ins Leben rief, der von vier Stiftungen und den Kultusministerien der Länder getragen wird. "Wir Deutschen haben da ein Defizit", erklärte Rau zur Eröffnung des Bundesfinales am 16. Mai im Berliner Haus des Rundfunks: "Bei uns gilt die Rhetorik als Spezialdisziplin für Pfarrer, Anwälte und Gutachter."

Das soll "Jugend debattiert" ändern. Der Wettbewerb verschafft eloquenten Heranwachsenden ein großes Publikum: Rund 500 Zuhörer und eine hochkarätig besetzte Jury verfolgten die Wortwechsel der acht Finalisten. Kein Wunder, dass sie vor dieser imposanten Kulisse mächtig aufgeregt waren. Beim Betreten des Saals habe er sich als erstes gefragt, "wo meine Plastiktüte ist", bekannte der 14-jährige Valentin Jeutner aus Hamburg: "Mir war so schlecht." Seine Sorge erwies sich aber als grundlos. Mit seiner Schlagfertigkeit hatte er nicht nur die Lacher auf seiner Seite, sondern auch die Schiedsrichter: Sie kürten ihn am Ende zu einem der beiden Bundessieger und bestätigten damit unwissentlich Raus Theorie. Jeutner ist Sohn eines Pastors: "In unserer Familie wird viel diskutiert."

Doch der jüngste Bundeswettbewerb ist keine elitäre Angelegenheit für hochbegabte Quasselstrippen. Nach dem Vorbild von "Jugend forscht", "Jugend musiziert" und "Jugend trainiert für Olympia" zielt er auf Breitenwirkung. An dem Auswahlverfahren beteiligten sich im laufenden Schuljahr rund 30.000 Schüler und 1.000 Lehrer an 300 Schulen bundesweit; im Vorjahr lag die Teilnehmerzahl noch bei der Hälfte. Jeweils drei Schulen werden zu einem Verbund zusammengefasst.

Das System setzt auf das Wechselspiel von Training und Wettkampf: Zunächst erhalten die Lehrer eine Fortbildung und vermitteln ihr Wissen ihren Schülern. Die beiden Klassenbesten treten in Debatten ihres Schulverbunds an. Wer sich hier und später auf Landesebene durchsetzt, wird mit einem dreitägigen Rhetorik-Training durch Profis belohnt. Den Bundessiegern winkt der Hauptpreis: ein einwöchiges Rhetorik-Seminar mit prominenten Gästen.

Dabei ist das Reglement genau festgelegt: In jeder Debatte diskutieren vier Schüler über eine vorgegebene Frage, die sie bejahen oder ablehnen müssen. Nach zweiminütigen Eingangsstatements unterhält sich das Quartett zwölf Minuten lang, wobei sie unter sich ausmachen, wer das Wort ergreift. Danach fasst jeder Teilnehmer in einer Minute das Gesagte zusammen. Er darf seinen Standpunkt auch ändern - durch den Gesprächsverlauf ausgelöste Lernprozesse sind gestattet und erwünscht. Ein Wecker wacht über die Einhaltung der Redezeit: Er klingelt unbarmherzig, wenn sie vorbei ist.

Dieses schrille Geräusch gab auch der Endausscheidung den Takt vor. Doch das irritierte die Finalisten nicht: Sie glänzten durchweg mit kurzen Wortbeiträgen, die sich auf das Wesentliche konzentrieren. In der ersten Runde debattierten vier Schüler der Klassen acht bis zehn über die Frage, ob man gegen die Unsitte des Schuleschwänzens härter als bislang vorgehen sollte. Dabei verblüffte die wortgewaltige Leidenschaft, mit der sie über Vor- und Nachteile von schärferen Maßnahmen gegen Lernunwillige stritten - offenbar schöpften sie aus eigener Erfahrung. Daher lobte der Publizist Wolf Schneider, sonst für seine scharfzüngige Kritik bekannt, als Juror ihre Überzeugungskraft: "Wer gerade spricht, scheint Recht zu haben."

Thomas Altmannshofer aus dem bayerischen Friedberg nannte bemerkenswerte Fakten. Demnach bleiben täglich bis zu einer halben Million Schüler unentschuldigt dem Unterricht fern, von denen jeder dritte während der unerlaubten Freistunden seine erste Straftat begeht. Um das zu verhindern, befürwortete der 17-Jährige eine harte Gangart: Schulschwänzer sollten von der Polizei in die Lehranstalt gebracht werden. Ihren Eltern wollte er notfalls das Erziehungsrecht entziehen. Seine Sachkenntnis belohnte die Jury mit dem zweiten Platz.

Übertrumpft wurde er indes von Jeutner, der die Gegenposition vertrat. Der Benjamin der Runde plädierte für psychologische Betreuung von Schülern, damit sie den Sinn der Schulpflicht begreifen: "Wissen kann man Schülern nicht aufzwingen, indem man sie von der Polizei in die Schule schleppen lässt." Bei diesem Schlagabtausch der beiden Jungen konnten die 15-jährige Eva-Linde Geiling aus Hechingen und die 16-jährige Lina Demirel aus Aachen nicht punkten: Sie meldeten sich zu selten zu Wort. Ihre Zurückhaltung bemängelte Jurorin Doris Ahnen, Präsidentin der Kultusministerkonferenz: "So kommt man nicht durchs Leben, wenn man wartet, dass man gefragt wird."

Die folgende Runde für Oberschüler der Jahrgangsstufen 11 bis 13 beschäftigte sich mit einer aktuellen politischen Streitfrage: Soll die Türkei in die EU aufgenommen werden? Erneut überraschten die gerade volljährigen Teilnehmer mit umfassendem Detailwissen. Das Rennen machte Michael Seewald aus Saarbrücken: Er lehnte den EU-Beitritt der Türkei ruhig, aber bestimmt mit der These ab, sie sei dafür noch nicht reif. Trotz jüngster Fortschritte hinke der kleinasiatische Staat bei der Demokratisierung der Gesellschaft europäischen Standards noch weit hinterher; auch als Nicht-EU-Mitglied könne die Türkei von Brüssel gefördert werden.

Den zweiten Platz belegte Oliver Unger aus Aachen. Er wies auf 13 Konfliktherde in der Region hin; zudem überfordere das bevölkerungsreiche und rückständige Land die Leistungsfähigkeit der EU. Gegen diese Argumente drangen die Beitritts-Befürworter Katharina Engler aus Hamburg und Christoph Pelz aus Braunschweig mit ihrem Appell, der EU eine Brücke zur islamischen Welt zu schlagen, nicht durch. Dass sein Sieg für ihn völlig unerwartet kam, sah man Seewald an: Auf dem Podium bekam er sofort rote Apfelbäckchen. Nun kann er Millionen Fernsehzuschauern beweisen, wie redegewandt er ist. Maybritt Illner wird ihn in ihre TV-Talkshow "Berlin Mitte" holen. Sein starkes Lampenfieber stört den Preisträger dabei nicht: "Das ist der nötige Adrenalinstoß, der bringt's!"


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.