Die Szene war sehr skurril. Einige in Schwarz gekleidete ultra-orthodoxe Juden standen still und hielten Plakate hoch mit der Aufschrift "Zionisten klauten das Heilige Land von den Palästinensern", "Authentische Rabbiner widersetzen sich dem Zionismus und dem Staat Israel" und "Herzl ist eine Katastrophe für die Juden". Neben ihnen schwangen unter Polizeischutz Anhänger der Palästinensischen Gemeinde Österreichs Fahnen ihrer Heimat, und jüngere Protestler skandierten: "Herzl ist ein Faschist" und "Zionismus ist Rassismus". Die jüdische Aktivistin Etti Schultz beschimpfte die Gruppe als "Abschaum" und "Schande für das Volk Israel, die es zu verbannen gilt". Einige Schritte weiter sang der orthodoxe Rabbiner Paul Chaim Eisenberg zusammen mit Kantor Shmuel Barzilai die israelische Nationalhymne "Hatikwa", während der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Ariel Muzicant, gemeinsam mit dem israelischen Botschafter Avraham Toledo und dem Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny das Straßenschild mit dem Namen Theodor Herzl enthüllten.
Ironie der Geschichte
Es ist die Ironie der Geschichte, dass der Platz im Zentrum Wiens fast an den Karl-Lueger-Platz angrenzt, der den Namen des antisemitischen ehemaligen Wiener Bürgermeisters trägt. Ein Jahr nach Luegers für Herzl traumatischem Wahlsieg, verfasste er sein Jahrhundertwerk "Der Judenstaat", in dem er die Lösung der Judenfrage mit der Gründung einer Heimat für das verfolgte Volk verband.
In diesem Sinne wurde der Zionismus in Wien geboren, wie der amerikanische Historiker Steven Beller in einem neuen Essay behauptet. Ausgerechnet das Auswärtige Amt in Wien gab das Buch zum Andenken an Herzl heraus, und Bellers These vertrat der kulturpolitische Referent im Auswärtigen Amt, Emil Brix, auf einer Herzl-Tagung in Jerusalem, die sein Amt gefördert hatte. "Wenn man mehr Völkerverständigung erreichen will, darf man solchen Themen nicht ausweichen", sagt Brix. "Österreich geht inzwischen offener mit seiner Geschichte um."
"Mit seiner Geschichte, aber nicht mit seiner Vergangenheit", meint der Wiener Schriftsteller und Historiker Doron Rabinovici. "Herzl bietet eine Möglichkeit, der Geschichte zu gedenken, ohne die Vergangenheit zu berühren, weil er ein Jude ist, der nicht einmal flüchten musste, weil er schon zuvor gestorben ist". Herzl ist also ein Teil der österreichischen Geschichte, aber nicht der jüngsten Vergangenheit des Landes. Für Rabinovici ist Vergangenheit etwas, was bewältigt wird. "Vergangenheit verweist auf die Nationalsozialisten. Geschichte lernt man gern. Vergangenheit will man gern verschweigen".
Daher erinnern nicht nur die Führung der jüdischen Gemeinde, sondern auch Persönlichkeiten aus Kultur und Politik, darunter der gewählte österreichische Staatspräsident Heinz Fischer, gern in der großen Wiener Synagoge, dem Stadttempel, an Herzl. Schauspieler des Burgtheaters, wo der Vater des Zionismus als Dramatiker Erfolge feierte, lesen aus seinem Tagebuch. Der orthodoxe Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg erinnert an die Überführung der sterblichen Überreste Herzls und seiner Eltern 1949 nach Israel mit Zwischenstation in diesem Gotteshaus, wie es sich Herzl in seinem Testament wünschte. "Die Särge wurden mit der israelischen Flagge bedeckt und im Tempel vor dem Allerheiligsten, dem Thoraschrank, aufgebahrt. Ehrenwachen bezogen ihre Posten zu beiden Seiten des Sarkophags". Wer erinnert sich schon daran, dass Herzl kaum eine Synagoge besucht hat, seinen Sohn Hans nicht beschneiden ließ und bis zum ersten zionistischen Kongress sogar einen traditionellen Christbaum aufstellte.
Der Rabbiner toleriert auch Herzls Prophezeiung in "Der Judenstaat": "Wir werden unsere Geistlichen in ihren Tempeln festzuhalten wissen". An Herzls Grab (das er seit 1949 jedoch nicht mehr "bewohnt") trägt er das jüdische Totengebet Kaddisch vor, obwohl auf dem Friedhof und sogar direkt gegenüber von Herzls Familiengrab Christen ihre letzte Ruhe finden. "Zu seiner Zeit war es ein jüdischer Friedhof, aber später hat ihn die Stadt Wien übernommen, und daher sind hier auch Christen begraben", erklärt Eisenberg. "Normalerweise kommen wir nicht hierher und benutzen diesen Friedhof nicht, aber für Herzl machen wir natürlich eine Ausnahme."
Tolerant zeigt sich auch Nechemia Gang, Vorsitzender der religiös-zionistischen Bewegung Misrachi in Wien, der ein internationales Symposium zu diesem Thema organisierte.
"Die Österreicher feiern gern Jahrestage jeder Art und schauen gern zurück", sagt Oscar Bronner, Herausgeber der liberalen Tageszeitung "Der Standard". Er sieht in den vielen Feierlichkeiten auch einen Versuch Wiens, die Beziehungen mit Jerusalem nach der Krise um Jörg Haider - Israel zog damals seinen Botschafter in Wien zurück - zu verbessern.
Intensiver bemüht sich um Herzl der konservative Konkurrent "Die Presse", weil dieser einst Redakteur der "Neuen Freien Presse" war. Eigentlich steht die Sonderbeilage keineswegs in der Tradition der NFP, die den Zionismus seines Redakteurs zu dessen Lebzeiten mit keinem Wort erwähnte. Michael Fleischhacker, stellvertretender Chefredakteur, ist stolz darauf, dass aus seiner Redaktion die Initiative zur Umbenennung der Gartenbaupromenade vor dem Zeitungsgebäude in Theodor-Herzl-Platz kam. Er könne sich aber nicht vorstellen, dass "Die Presse" diese Adresse offiziell übernimmt. Wien benennt in der Regel bewohnerfreie Straßen um, weil man Firmen, Vertrags- und Druckortsänderungen ersparen will.
Nur wenige kennen den angesehenen Feuilletonisten Herzl. Grund genug für das Jüdische Museum in Wien, eine Sammlung seiner Texte unter dem Titel "Die treibende Kraft" herauszugeben. Besonderes Aufsehen erregten seine Thesen zu Themen wie Radfahren und Schönheitschirurgie, erzählt Alfred Stalzer, Pressesprecher des Jüdischen Museums in Wien. Sein Lieblingsessay reflektiert die Frage der Assimilation der Juden aus dem Blickwinkel der Nase. "Damals wurden die Nasenoperationen populär, und Herzl macht sich lustig über diese neue Mode, darüber, dass man seine Äußerlichkeit aus Anpassungsgründen mittels operativer Eingriffe korrigierte." Jedoch: "Eine Vererbung künstlich zugefügter Defekte findet nicht statt."
Nicht nur Palästinenser konnten die jüdischen Antizionisten für sich gewinnen, sondern auch einige prominente Politiker. Ehrengäste ihrer Konferenz, auf der der selbsternannte Rabbiner Moishe Arye Friedmann den Zionisten die "wesentliche Schuld am Holocaust" gab und sich gegen Entschädigungszahlungen an jüdische Opfer des Nationalsozialismus aussprach, waren der ehemalige österreichische Bundespräsident und Wehrmachtsoffizier Kurt Waldheim sowie der wegen einer antisemitischen Rede von der CDU/CSU-Fraktion ausgeschlossene Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann. Igal Avidan