Die Oma, so erzählt sie, hatte vor ihrem Tod die Bestattung in der Familiengruft angeordnet. Eine eigentlich nahe liegende Idee - genauso wie von ihrer Wohnung beträgt auch der Weg vom Lazarus-Krankenhaus, in dem sie gestorben war, bis zum Grab keine 100 Meter Luftlinie. Doch wie die Wohnung lag auch das kirchliche Hospital im Westberliner Bezirk Wedding, der Friedhof aber im östlichen Bezirk Mitte. Zwischen beiden Orten längs der Bernauer Straße verlief nun die Mauer.
Also hatten die Nachkommen ein Problem. Sie mussten eine Ausnahmegenehmigung organisieren, dazu eine Bescheinigung, dass die Leiche "seuchenfrei" sei. Nach einer Trauerfeier im Wedding wurde der Sarg zum Übergang Heinrich-Heine-Straße gebracht, dort samt Kränzen in einen Leichenwagen der Ostberliner Stadtverwaltung umgeladen und schließlich auf dem Friedhof in das Grab versenkt. "Mit einem Feldstecher haben wir die Beerdigung über die Mauer von einem Hochstand aus beobachtet", erinnert sich Elke Kielberg. Erst zu Weihnachten, als den Westberlinern das erste Passierscheinabkommen wieder Besuche im Ostteil der Stadt ermöglichte, konnte sie mit ihrer Mutter das Grab besuchen.
Solche Geschichten erzählen hier an der Bernauer Straße alle Alteingesessenen - absurde Geschichten von einem absurden Alltag, den die Geschichte diktiert hat. Abrupt hatte der Mauerbau die täglichen Wege der Menschen im Kiez unterbrochen. Auch die von Elke Kielberg, die an der Ecke Hussitenstraße/Bernauer aufgewachsen ist und dort immer noch lebt. Einkäufe im Osten, der nachmittägliche Besuch der Rollschuhbahn in der Gartenstraße oder der Sonntagsausflug zum Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain - alles plötzlich vorbei. Doch am schlimmsten war, dass die Familie getrennt wurde. Ihre Kusine, die für sie - ein Einzelkind - wie eine Schwester war, lebte auf der anderen Seite. "Am Nachmittag wollten wir bei meiner Tante und ihr zum Kaffeetrinken vorbeikommen, aber wir standen am Nordbahnhof und kamen nicht mehr rüber", erinnert sie sich, und es klingt, als wäre es gestern gewesen. Schon morgens um acht Uhr war Elke Kielbergs Mutter entrüstet nach Hause gekommen, nachdem sie eine Zeitung kaufen wollte. Die Straßen, die quer zur Bernauer Straße in Richtung Mitte verliefen, die Acker-, Garten-, Strelitzerstraße, waren mit Stacheldraht versperrt worden. Und kurz danach begannen die DDR-Kampfgruppen, die Straßen zu vermauern.
Ganz Berlin traf der Mauerbau ins Mark, doch was die Teilung der Stadt mit der Bernauer Straße machte, wirkt besonders bizarr. Entlang der knapp anderthalb Kilometer langen Straße zwischen Jahnstadion und dem Nordbahnhof ist der Verlauf der Mauer noch heute klar zu erkennen. Immer noch ist der rund 75 Meter breite ehemalige Todesstreifen überwiegend unbebaut, eine Brache parallel zur Straße, die in ihrer ganzen Länge zweigeteilt war: die nördliche Straßenseite, die beiden Bürgersteige und der Fahrdamm waren Westen, die südliche Straßenseite Osten - genau ab der Häuserfassade.
Dahinter wurde die Grenze nach und nach hermetisch: Zunächst vermauerten die DDR-Grenzer die Häuser, später rissen sie sie ab - bis auf die Erdgeschossmauern, die in die Mauer integriert wurden. Erst Ende der 70er-Jahre ersetzte die mehr als drei Meter hohe Mauer aus Betonelementen die letzten Fassadenreste, an denen immer noch die Aufschriften der alten Geschäfte standen.
Spurensuche im Kiez
Hartmut Richter, ein alter Kiezbewohner mit höchst bewegtem Leben, führt Schul- und Besuchergruppen durch die Bernauer Straße, im Auftrag der Gedenkstätte Deutsche Einheit, die am unteren Ende der Straße liegt. Er schärft den Blick der Besucher für die Spuren, die noch auf die frühere Bebauung verweisen - Treppenabsätze, Gullys, Gitterroste, die über Kellerfenstern angebracht waren. Im Boden befinden sich noch die Fundamente und Keller, erklärt er, und an manchen Stellen auch noch die Überreste der Tunnels, durch die noch bis 1973 immer wieder Menschen die Flucht in den Westen versuchten - bis es Stasi, Volkspolizei und DDR-Grenztruppen durch ihre immer massivere Präsenz in den mauernahen Stadtteilen unmöglich machten, dass noch jemand unbemerkt einen Tunnel grub.
Hartmut Richter war im August 1961 gerade 13 Jahre alt, und als mitten in Berlin der Eiserne Vorhang herunterkrachte, fand er sich auf der falschen Seite wieder. Wie oft zuvor hatte er, der im brandenburgischen Werder aufwuchs, seine Schulferien bei seiner Cousine im Wedding verbracht. Nun konnte er zunächst nicht zurück. Erst nach einigen Tagen holte ihn ein offizielles Fahrzeug ab und brachte ihn zu seinen Eltern in die DDR zurück. Was er in der Bernauer Straße miterlebt hatte, ließ ihn aber nie mehr los. Viele Bewohner der Häuser, die zum Osten Berlins zählten, hatten noch versucht, auf den Bürgersteig und damit in den freien Westen zu springen. Einige wie die 78-jährige Ida Siekmann verletzten sich dabei tödlich. Westberliner Feuerwehr und Polizei versuchten auf der Bernauer Straße, den Flüchtenden zu helfen, oft vergeblich.
Richter zog seine ganz eigenen Konsequenzen. Nach einem ersten gescheiterten Fluchtversuch, der ihm eine Bewährungsstrafe eingebracht hatte, durchschwamm er im August 1966 im Süden Berlins den Teltow-Kanal. Vier Stunden brauchte er dafür. "Ich bin mehr getaucht als geschwommen, um nicht aufzufallen", schildert er.
So waghalsig die Flucht, so abenteuerlich verlief sein weiteres Leben. Nach einigen Jahren zur See zog er 1970 in den Wedding. Aus Hass auf die DDR schleuste er mehr als 30 Mal über die Transitstrecken Flüchtlinge in den Westen, bis er geschnappt und abgeurteilt wurde. Knapp sechs Jahre saß er in DDR-Haft, unter anderem im gefürchteten Gefängnis in Bautzen, bis er von der Bundesrepublik freigekauft wurde.
Das Skandalon der Teilung blieb auch im Westen sein Lebensthema. Mit Protestaktionen machte er Schlagzeilen. So warf er einmal, "bei günstigem Westwind", von der Aussichtsplattform am Ende der Bernauer Straße Flugblätter in den Osten. Von dieser Aktion existieren gestochen scharfe Fotos, auf denen Richter mit wehender Haarpracht gut zu erkennen ist. Diese Bilder entdeckte Richter aber erst nach der Wiedervereinigung - als er Einblick in seine Stasiakten nahm.
Auch für Manfred Fischer überlagert sich die Gegenwart in der Bernauer Straße immer wieder mit den Bildern der Vergangenheit. Seit 1975 ist er Pfarrer der Versöhnungsgemeinde. Doch die Kirche in der Bernauer Straße, die seiner Gemeinde den Namen gab, hat er nie betreten. Der gründerzeitliche Backsteinbau lag mitten im Todesstreifen, auch er ein Opfer der Grenzziehung in der Bernauer Straße. Wie die Wohnhäuser war er im August 1961 zugemauert worden, weil die Kirche im Osten, der Eingang aber in Richtung Westen lag. Die Kirche diente später den Grenztruppen als Abstellkammer und Verließ für die Schäferhunde, die im Todesstreifen als Wachhunde eingesetzt wurden.
Im Januar 1985 sprengten DDR-Grenzer die Kirche. Sie stand einfach im Weg. "Das Schiff brach nach der ersten Sprengung zusammen", erinnert sich Fischer, "doch der Turm widerstand. Erst sechs Tage später fiel er nach einer weiteren Sprengung."
Mit Mahngottesdiensten und Schweigemärschen versuchte Fischer in den folgenden Jahren, an den Verlust der Gemeindekirche zu erinnern. Als die Mauer gefallen war, ging er im Osten auf Spurensuche nach den Überresten der alten Kirche. Die Glocken tauchten wieder auf, dazu Teile des Altars und die eiserne Turmspitze, die beim Sturz beschädigt wurde.
Diese Relikte sind heute in der Kapelle der Versöhnung aufbewahrt, die die Gemeinde vor vier Jahren auf den Fundamenten der alten Kirche errichtet hat - als schmuckloses Oval in Lehmstampftechnik mit einer Hülle und einem Dach aus Holz. Unter den Lehm sind Mauerteile der gesprengten Kirche gemischt worden. In einer Nische ist durch eine Glasscheibe ein Blick in den Untergrund freigegeben: Im Boden zu sehen ist die 1961 von Grenzern vermauerte Kellertür der alten Kirche und ein Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg, der bei den Erdarbeiten für die Kapelle gefunden wurde.
60.000 Besucher zählte die symbolträchtige Kapelle im vergangenen Jahr, erzählt Pfarrer Fischer stolz. Hier finden auch die offiziellen Staatsakte zum 13. August und 9. November statt. Über den ehemaligen Kolonnenweg und die Ackerstraße führt der Weg zur benachbarten Gedenkstätte Deutsche Einheit, an deren großen Bronzewand dann Kränze niedergelegt werden, die an Bau und Fall der Mauer erinnern.
Den Tag, nachdem die Mauer fiel, hat Elke Kielberg noch deutlich in Erinnerung. Als sie mittags zu ihrer Arbeit in einem Krankenhaus in Moabit wollte, muss-te sie zu Fuß gehen. Alle Busse steckten hoffnungslos im Stau. Und auch die Bank, auf der sie Geld holen wollte, war verstopft. Die DDR-Bürger standen nach dem Begrüßungsgeld an. Die Einheit begann mit Beschwernissen. "Erst als ein paar Tage später meine Kusine vor meiner Tür stand, habe ich voll realisiert, was da passiert war", sagt sie mit einem Lächeln.
In den kommenden Monaten rücken in der Bernauer die Baufahrzeuge an. Die Straße wird eine neue Oberfläche erhalten. Die Straßenbahn, die bislang wie zu DDR-Zeiten am Jahnstadion auf der Ostseite endete, wird über den Nordbahnhof hinaus bis zum künftigen Hauptbahnhof verlängert. Viele Spuren, die heute im Straßenbild noch zu entziffern sind, werden dann verschwinden. Die einstmals geteilte Stadt wächst ein weiteres Stück zusammen - und lässt wieder etwas von ihrer Vergangenheit zurück.