Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 29-30 / 12.07.2004
Luise Wagner

Entführt, verhaftet und liquidiert

Buch der Toten: 1.000 Opfer stalinistischer Repression bekommen Namen

Der Grenzpolizist Werner Wendt mochte die Elbe, die trübe und gemächlich an ihm vorbei floss. Nur im Stillen dachte er daran, einmal hinüber zu schwimmen. In das kleine mecklenburgische Flussdorf Kietz an der Zonengrenze zum Westen war der Oberwachtmeister nur versetzt worden, weil es nach dem Krieg kaum noch Männer im Land gab. Es war eine Begnadigung, vielleicht aber auch eine Falle. Hinter ihm lagen drei Hungerjahre in der Kriegsgefangenschaft im russischen Charkow. Nur weil sich Wendt zum unbeliebten Dienst in der neu gegründeten Grenzpolizei verpflichtete, wurde er früher entlassen und durfte nach Deutschland ausreisen. An einem Septembermorgen 1950 wurde er per Telegramm aus dem Urlaub auf seinen Stützpunkt gerufen. Noch auf dem Weg nahm ihn ein Greiftrupp gefangen.

Seiner Nichte, Monika Bunk, ist das Rätsel um das Verschwinden ihres Onkels zur Lebensaufgabe geworden. Mühselig hat die Greifswalderin das Schicksal wie ein Mosaik zusammengesetzt: Die Männer waren von der Staatssicherheit und hatten den Grenzwächter ins Gefängnis nach Schwerin gebracht, von dort ging es nach Berlin-Lichtenberg und mit dem Zug nach Moskau. Am 18. April 1951 wurde Werner Wendt im Butyrka-Gefängnis erschossen. Der Vorwurf lautete: Verrat am Vaterland und Mitgliedschaft in einer antisowjetischen terroristischen Untergrundorganisation. Vom Tod ihres Onkels hatte Monika Bunk erst 40 Jahre später 1997 vom Roten Kreuz erfahren. In der DDR waren Nachfragen stets abgeschmettert worden. Dass ihr Onkel Mitglied Spion gewesen sein soll, wie ihr erklärt wurde, hatte Monika Bunk nie geglaubt. "Das war Verleumdung. Er hätte längst flüchten können, wenn er das gewollt hätte." Später erfuhr sie: nicht nur Werner Wendt war abgeholt worden. Die ganze Wachstube aus Kietz war verhaftet worden als Bande von Terroristen. Sechs junge Männer wurden zum Tode verurteilt, und die anderen sollten für 25 Jahre in den Gulag zum Arbeitsdienst, den nur zwei von ihnen überlebten.

Heute decken Historiker immer mehr Details über die stalinistische Repression aus der Frostphase des Kalten Krieges auf. Bis 1990 war die Verfolgung Deutscher durch sowjetische Besatzungsorgane kein Forschungsgegenstand. Das Berliner Historische Forschungsinstitut Facts & Files hat in Zusammenarbeit mit der internationalen Gesellschaft Memorial in Russland und der Stiftung Aufarbeitung die Schicksale von 1.000 deutschen Opfern der Repression namentlich erfasst. Alles Menschen, die zwischen 1950 und 1953 in der DDR verhaftet und von sowjetischen Militärtribunalen zum Tod verurteilt wurden.

Dabei agierte die Staatssicherheit bei den Nacht- und Nebel-Aktionen an vorderster Front. Sie lieferte die Verdächtigen an die sowjetischen Geheimpolizei (NKWD) aus. In Schnellverfahren wurden die Opfer von so genannten Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) verurteilt.

Die Todgeweihten durften ein Gnadengesuch stellen, was nur in Einzelfällen positiv entschieden wurde. Dann gab es statt des Genickschusses den Verweis für 25 Jahre in ein Arbeitslager. Über das Gnadengesuch entschied offiziell der oberste Sowjet, tatsächlich aber Stalin und der interne Kreis seines Politbüros.

Wer dem System zu unbequem war, wurde denunziert und ausgeliefert. Dabei galt jede Kritik schnell als konterrevolutionäre Handlung. In ihrer Rechtsprechung ließ sich die Militärjustiz wesentlich von den "Bestimmungen über Staatsverbrechen" leiten, die das Zentralkomitee 1927 verabschiedet hatte. Man bediente sich der vielen Varianten des berüchtigten Artikels 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches. So waren denn die Urteile überwiegend politisch motiviert: Staatsverleumdung, Beihilfe zu Spionage oder Verbindung zu feindlichen Agenten.

Willkür der Militärtribunale

Deportiert wurden auch Deutsche, die als Kriegsgefangene zuvor entlassen worden waren. Allein aus Westberlin und Westdeutschland ließ die sowjetische Militärgeheimpolizei 131 Menschen entführen oder im Osten verhaften. Zu den Opfern zählten einfache Landarbeiter, Handwerker oder Lehrlinge. Doch meist traf es Intellektuelle: Studenten, Professoren und Politiker wurden entführt. Betroffen waren viele politisch Aktive der Ostbüros der FDP, CDU und SPD, aber auch zahlreiche Vertreter ostdeutscher Parteien. Prominentes Beispiel für die Willkür der sowjetischen Militärtribunale ist das Bürgermeisterehepaar Köhler (CDU) aus Potsdam, das 1950 in Sippenhaft genommen und wegen "konterrevolutionärer Agitation" zum Tode verurteilt wurde. Erwin und Charlotte Köhler wurden drei Monate nach Urteilsverkündung am 20. Februar 1951 in Moskau erschossen.

Dabei hatte Josef Stalin kurz nach dem Krieg eine gewisse Lockerung des Strafgesetzbuches zugelassen. Erst 1950 wurde die Todesstrafe in der UdSSR wieder eingeführt, nachdem sie zwischen 1947 und 1949 unterbrochen war. Schluss mit dem Gemetzel politisch Missliebiger war erst weit nach dem Tode Stalins. Der letzte von den sowjetischen Besatzern zum Tode verurteilte Deutsche war der Westberliner Rechtsanwalt Walter Linse, der im Dezember 1953 im Erschießungsturm des Moskauer Butyrka-Gefängnis hingerichtet wurde.

Die Forscher von Facts & Files durchforsten Hunderte von Akten, des Bundesarchivs, des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes und Stasiunterlagen, um Namen und Lebensgeschichten der Todeskandidaten in die Gegenwart zurück zu holen. Im Herbst kommenden Jahres soll das rund 300 Seiten starke "Totenbuch" mit Fotografien und Biografien der Opfer veröffentlicht werden. Probleme bei der Aufarbeitung gab es vor allem durch fehlende Angaben zum Todesdatum oder Übersetzungsfehler der kyrillisch aufgeführten deutschen Namen.

Noch in diesem Jahr wollen die deutschen Angehörigen auf dem Donskoje Friedhof im Zentrum Mos-kaus, an der so genannten "Grabstätte für nicht-abgeholte Asche" einen Gedenkstein für die 1.000 Toten aufstellen. Zwei Plätze sind schon besetzt: Steine polnischer und japanischer Opfer erinnern an die Repression. Viele Angehörige hoffen heute auf eine formelle Rehabilitation der Opfer, die seit Anfang der 90-er Jahre per Gesetz geregelt wurde. Das Verfahren wird vor der Russischen Militärstrafanwaltschaft geführt und zieht sich sehr in die Länge. Bisher sind erst 606 der etwa 1.000 deutschen Opfer rehabilitiert worden.

Luise Wagner

Das Institut Facts & Files sucht noch Angehörige,

die Auskunft über die Schicksale der Verschleppten

geben können. Telefon: 0 30/48 09 86 20,

www.factsandfiles.com.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.