Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 52-53 / 20.12.2004
Hartmut Hausmann

EU will mit der Türkei ab 2005 über einen Beitritt verhandeln

Europäischer Gipfel in Brüssel
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben auf ihrem Gipfeltreffen am 16. und 17. Dezember in Brüssel der Türkei Beitrittsverhandlungen angeboten, die am 3. Oktober 2005 beginnen können. Es gebe aber keine Garantie, dass die auf eine Dauer von knapp zehn Jahren angesetzten Verhandlungen auch automatisch zur Aufnahme der Türkei führten, erklärte der EU-Ratsvorsitzende Jan Peter Balkenende nach Abschluss der ersten Gesprächsrunde am späten Abend des 16. Dezember.

EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso fügte hinzu: "Die EU hat der Türkei die Tür weit geöffnet." Über die ergänzenden, so genannten Schutzklauseln fanden die Beratungen aber erst am 17. Dezember statt und waren bei Redaktionsschluss noch nicht beendet.

Als einzige Bedingung wurde von der Gipfelrunde verlangt, dass die Regierung in Ankara bis zum Beginn der Gespräche das Zusatzprotokoll zur bereits bestehenden Zollunion zwischen der EU und der Türkei unterzeichnen müsse. Die Bereitschaft dazu solle gleich in Brüssel vom türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan paraphiert werden. Eine solche einseitige Vorleistung lehnte Erdogan nach seinem Gespräch mit Balkenende noch in der Nacht als unzumutbar ab, weil durch das Zusatzprotokoll, das sich auf die erweiterte Union und damit auch auf Zypern bezieht, eine Anerkennung der nur von den griechischen Zyprioten repräsentierten Insel Zypern impliziert werde.

Hintergrund dieses zunächst noch ungeklärten Problems ist die Androhung des Ministerpräsidenten von Zypern, Tassos Papadopoulos, die Türkei-Verhandlungen durch sein Veto solange zu blockieren, bis sein Land durch die Regierung in Ankara anerkannt worden sei. Es sei doch undenkbar, dass ein Staat Mitglied in der Europäischen Union werden wolle, das selbst nicht einmal alle 25 Staaten anerkenne. Dieses Faustpfand der Anerkennung mochte Erdogan nicht vorschnell aus der Hand geben. Erst müsse sichergestellt sein, dass die Wiedervereinigung der türkischsprachigen und der griechischsprachigen Landesteile Zyperns wieder in Gang komme.

Der mit Hilfe der Vereinten Nationen ausgehandelte Friedensplan, auf dessen Grundlage ganz Zypern der EU beitreten sollte, war im Frühjahr vom griechischen Südteil der Insel abgelehnt worden, der aber trotzdem in die EU aufgenommen wurde, während der türkisch besetzte Norden trotz Zustimmung weiter warten muss. Als Kompromiss könnte Jan Peter Balkenende, wie aus niederländischen Delegationskreisen am Morgen des 17. Dezembers verlautete, den Regierungschefs vorschlagen, eine Anerkennung Zyperns durch die Türkei noch vor Aufnahme der Beitrittsgespräche zu fordern, gleichzeitig aber auch einen neuen Anlauf für die Wiedervereinigung der Insel zu initiieren.

Dennoch kann Erdogan mit dem bisher Erreichten zufrieden sei. Nicht nur, dass er den übrigen Regierungschefs Europas die Auszeichnung "Europäer des Jahres" voraus hat, mit der ihn ein englischsprachiges Europa-Journal wegen der von ihm durchgesetzten Reformen geehrt hatte, es gelang ihm zudem in seinen Gesprächen der letzten Tage, die wichtigsten Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die den erhofften Gipfelbeschluss noch hätten block-ieren können.

Dass die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen erst im zweiten Halbjahr 2005 liegen wird, war von Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac durchgesetzt worden, um nicht das Referendum über die Europäische Verfassung mit der Türkei-Frage zu belasten. Das kann Erdogan nur Recht sein, denn eine der unumstößlichen Vorbedingungen für die Aufnahme seines Landes ist das vorherige Inkrafttreten der EU-Verfassung.

Zufriedenheit herrscht in der türkischen Delegation auch darüber, dass es voraussichtlich keine unzumutbaren Vorabbedingungen gibt, wie ursprünglich aus einigen Hauptstädten verlautete; auch keine dauerhafte, weil diskriminierende Einschränkung der Freizügigkeit für Türken.

Ernsthaftere Irritationen drohten dagegen noch von dem Treffen der konservativen Staats- und Regierungschefs am Vortag des Gipfels auszugehen. Auf Wunsch von Österreichs Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sollte in die Gipfelerklärung eine Formulierung aufgenommen werden, nach der als Ziel der Verhandlungen nicht nur die Vollmitgliedschaft der Türkei festgehalten werden sollte, sondern auch die Möglichkeit einer besonderen Partnerschaft dieses Landes mit der EU, die eine Aufnahme in beiderseitigem Interesse überflüssig machen würde.

Doch nachdem diese Idee bereits am Tag zuvor mit einer fast Zweidrittelmehrheit abgeschmettert worden war, blieb die Unterstützung für Schüssel eher zaghaft. Im Gegenteil, sowohl Balkenende als auch der Präsident der EU-Kommission, Jose Manuel Barroso, forderten einen eindeutigen Gipfelbeschluss und warnten vor neuen Vorbedingungen.

Schwerer wird es jedoch für Erdogan, seinen Landsleuten begreiflich zu machen, dass die Beitrittsverhandlungen frühestens 2013 beendet werden können, selbst wenn das Land Dank seiner Reformfreudigkeit wesentlich schneller als erwartet alle Voraussetzungen für die Integration in die EU erfüllen sollte.

Sowohl die Kommission als auch die Europaabgeordneten vertreten die Auffassung, dass erst, wenn eine Einigung über die nächste ab 2014 beginnende Finanzperiode erreicht worden sei und feststehe, über welche Mittel die EU anschließend verfüge, seriös über die der Türkei dann zufließenden Mittel für die Landwirtschaft und für Strukturhilfen gesprochen werden könne.

Diese langfristige Perspektive ist es, die die Gegner der Türkei trotz ihrer abzusehenden Niederlage beim Gipfel weiter hoffen lässt. Die Türkei werde weiter schnell wachsen und sich unter dem Druck des Einflusses seiner islamischen Nachbarn so verändern, dass sie selbst gar nicht mehr nach Europa wolle. Die Befürworter hoffen hingegen, dass sich das Land am Bosporus mit seinen Reformen so an die Europäische Union anpassen werde, dass der Vollzug der Mitgliedschaft in etwa 15 Jahren schließlich überall als völlig selbstverständlich begrüßt werde.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.