Als Anfang 1997 der damalige CDU/CSU-Bundestagsfraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble noch als Nachfolger von Helmut Kohl gehandelt wurde, titelte der "Stern" ein Interview mit ihm auf seinen Wunsch hin: "Ein Krüppel als Bundeskanzler?" "Diese Frage muss man stellen", sagte der seit 1990 durch ein Attentat querschnittsgelähmte Politiker. "In Deutschland muss man diese Frage stellen", hätte er treffender sagen sollen. Denn in den USA beispielsweise waren beide Präsidenten mit dem Nachnahmen Roosevelt sichtbar schwer behindert. Theodore wegen Asthma deutlich geschwächt, Franklin D. durch Kinderlähmung sogar Rollstuhlfahrer. Und in England gilt der blind geborene Innenminister David Blunkett als erfolgreichstes Mitglied im Kabinett von Tony Blair. Auch in Schweden erwarb sich der nichtsehende Sozialminister Bengt Lindqvist im In- und Ausland Ansehen. Deshalb haben ihn die Vereinten Nationen zu ihrem Behindertenbeauftragten berufen. Im Vordergrund stehen in diesen Ländern die Leistungen und Fähigkeiten der Menschen. Das Handicap spielt eine untergeordnete Rolle.
In Deutschland hingegen, so hat man bisweilen den Eindruck, wird jegliches Abweichen vom üblichen Typ als "nicht normal" angesehen und schnell abgelehnt, werden Menschen mit Behinderungen als leistungsgemindert abgewertet und an den Rand gedrängt, auch wenn die Ideologie der Nationalsozialisten mit Zwangssterilisation und Ermordung behinderter Menschen in Heilanstalten und Konzentrationslagern der Vergangenheit angehört. Doch immer wieder gibt es Entscheidungen deutscher Gerichte, die erschrecken: In einem Urteil des Oberlandesgerichts Köln von 1998 wurde allein die Anwesenheit und der Anblick schwerstbehinderter Menschen als "Urlaubsfreuden mindernd" bewertet und den Klägern Schadenersatz zugesprochen.
Einer Gruppe mit geistiger Behinderung haben sie nicht der Lautstärke wegen, sondern aufgrund der die Nachbarn störenden "Andersartigkeit ihrer Unterhaltung", den Aufenthalt im eigenen Garten eingeschränkt. An der Tendenz zur Ausgrenzung haben auch die häufig bewunderten Leistungen der Millionen Menschen, die durch den Krieg blind, taub oder beides wurden, Beine und Arme verloren, nichts zu verändern vermocht.
Nun versuchen die betroffenen Menschen solche Vorurteile mit pfiffigen Ideen und fantasievollen Aktionen zu widerlegen. Beispielsweise machten mehrere blinde oder gelähmte Frauen und Männer zu Fuß oder im Rollstuhl im vergangenen September beim Berlin-Marathon mit. Ihr Motto: "Marsch aus den Institutionen - statt in teueren Heimen versauern, wollen wir lieber zu Hause unsere Hilfskräfte selbst anstellen und dadurch auch noch etwa 500.000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse schaffen!"
Dass Barrieren oft behinderte Menschen daran hindern, ihre Fähigkeiten zu entfalten, war bis zum Regierungswechsel 1998 der Politik schwer zu vermitteln. Auch nach Inkrafttreten des Satzes in Artikel 3 Grundgesetz: ,Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden' am 15. November 1994 änderte sich zunächst nichts: "Keiner von den Verantwortlichen in Bund, Ländern und Gemeinden kam auf die Idee, wie Kanada und Australien, öffentliche Gebäude und Verkehrsmittel so zu gestalten, dass sie für alle Menschen gleichermaßen erkennbar, erreichbar und benutzbar sind", sagt der Sprecher des Forums Behinderter Juristinnen und Juristen Andreas Jürgens. "Mein Zwillingsbruder und ich sind aus dem Kinderwagen gleich in den Rollstuhl umgestiegen", witzelt der ehemalige Kasseler Amtsrichter. Nach seiner Wahl als Abgeordneter der Grünen in den Hessischen Landtag im vergangenen Jahr mussten dort - wie zuvor wegen Wolfgang Schäuble im Bundestag und 1987 mit dem Einzug des Rollstuhlfahrers Horst Frehe in die Bremer Bürgerschaft - Rampen und absenkbare Pulte angebracht werden. Von dem Pult in Bremen profitierte auch der über zwei Meter lange Bürgermeister Henning Scherf und setzt sich seither für den Abbau von Barrieren ein.
Bis 1974 konzentrierten die Bundes- und meisten Landesregierungen ihre Arbeit hauptsächlich darauf, die materiellen Nöte der Kriegsverletzten zu lindern. Der Wunsch der damals "zivilbeschädigt" genannten Menschen, ihre Nachteile mit einer ähnlichen Regelung auszugleichen, lehnten Bund und Länder als unerfüllbar ab. So blieben sie sich, ihren Angehörigen und privaten Hilfsorganisationen wie der im Oktober 1964 von den Wohlfahrtsverbänden und dem ZDF ins Leben gerufenen "Aktion Sorgenkind" überlassen. Die Betroffenen haben sich erst nach der Namensänderung in "Aktion Mensch" im März 2000 mit ihr arrangiert. Heute unterstützt "Aktion Mensch", für die unter anderem Thomas Gottschalk" in "Wetten, dass" wirbt, vehement Initiativen wie der "Marsch aus den Institutionen". Die Absicht der sozial-liberalen Bundesregierung, diese Menschen aus dem Schattendasein herauszuholen, blieb auf der halben Strecke stecken, weil im Schwerbehindertengesetz von 1974 wirksame Instrumente zum Erreichen ihrer gesellschaftlichen Gleichstellung fehlten. Sein Nachfolger, das IX. Sozialgesetzbuch von Juli 2000 ist zwar unter Beteiligung behinderter Menschen entstanden, einmütig im Parlament beschlossen worden und enthält wirksamere Regelungen. "Es wird aber nicht - wie vorgeschrieben - überall bürgerfreundlich und unbürokratisch angewendet", kritisiert der Bundesbehindertenbeauftragte Karl Hermann Haack.
Konkrete Schritte, das Benachteiligungsverbot behinderter Menschen im Grundgesetz mit Leben zu füllen, haben die Bundestagsparteien erst nach dem Regierungswechsel 1998 unternommen. Bei der Erarbeitung des mit großer Mehrheit beschlossenen Behinderten-Gleichstellungsgesetzes (BGG) von Mai 2002 wirkten Andreas Jürgens und der in Bremen als Sozialrichter tätige Horst Frehe entscheidend mit. Entsprechende Regelwerke gibt es bislang in neun Bundesländern. Nun leisten selbstbewusste Frauen und Männer mit Behinderungen permanent Überzeugungsarbeit "damit die übrigen Bundesländer ebenfalls folgen und die Bundesregierung auch uns in das zur Umsetzung der EU-Richtlinien in nationales Recht notwendige Antidiskriminierungsgesetz aufnimmt", betont der fast blinde Sprecher des Netzwerks, Ottmar Miles-Paul, Artikel 3. Darin ringen 70 bundesweit agierende Selbsthilfeorganisationen mit tatkräftiger Unterstützung angesehener behinderter Menschen aus den USA um die Verwirklichung des Benachteiligungsverbotes in Artikel 3 Grundgesetz. Ihre Argumente: Häuser mit ebenerdigen Aufzügen, über schiefe Ebenen erreichbare Läden, Bahnen und Busse mit automatisch ein- und ausfahrbaren Rampen oder stufenlosem Zugang nützen neben Mobilitätsbeeinträchtigten auch kleinen Kindern, Müttern mit Kinderwagen und alten Menschen. Geld-, Fahrkarten- und Getränkeautomaten, Telefone, Waschmaschinen, Kühlschränke, Gefriertruhen, Fernseh-, Radio- und andere Geräte, die ihre Funktionen auch ansagen, könnten blinde oder sehbehinderte Menschen ohne Hilfe bedienen. Darin müssten die Hersteller gegen geringe Mehrkosten lediglich einen Sprach-Chip einbauen. Mit Tastenkombinationen, Kopf- und Fußmaus bedienbare Seiten, deren Schriftgröße veränderbar, Grafiken und Links mit Text unterlegt sind, öffnen blinden, sehbehinderten und Menschen mit unterschiedlichen Lähmungen ebenfalls einen Zugang zum Internet und damit zu Wissen und Kommunikation.
Online-Dienstanbieter in den USA, die nach dem Gesetz ihre Internetseiten und Produkte in der Form barrierefrei aufbereiten müssen, sparen pro Seite sogar 50 Kilo Bytes. "Dort räumte das seit 1990 konsequent praktizierte Antidiskriminierungsgesetz die Barrieren aus, ermöglichte den rund 50 Millionen gehandicapten Menschen voll die Teilnahme am Geschehen in der Gesellschaft und brachte jährlich bis zu 200 Milliarden Dollar zusätzlich in den Wirtschaftskreislauf", berichtet die Disability-Advisorin der Weltbank und ehemalige Vizebildungsministerin der USA, Rollstuhlfahrerin Judith Heumann.