Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
Bernd-Jürgen Wendt

Dolch und Kugel statt Diplomatie

Politischer Mord in der Geschichte
Am 28. Juni 1914 löste der serbische Nationalist Princip mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus. Sie hätte nicht automatisch zum großen europäischen Krieg führen müssen, sondern hätte durch ein entschlossenes Dazwischentreten der beteiligten Großmächte durchaus noch unterbrochen werden können. Aber durch deren Unentschlossenheit, Halbherzigkeit und Revanchelust schlitterte Europa dann doch in die große Katastrophe.

Das Mordkomplott entwickelte sich, wie Imanuel Geiss eindringlich nachweist, auf dem Nährboden eines radikalen großserbischen Nationalismus, in dem wie in einem Brennspiegel teilweise uralte Konfliktlinien bis 1914 zusammentrafen und sich gegenseitig dynamisch aufluden. In dem allseits ungeliebten Mordopfer habe sich damals nach Geiss gleichsam die ganze verfassungspolitische und verfassungsstrukturelle "Ausweglosigkeit" Österreich-Ungarns verkörpert.

Kann ein politischer Mord dem Gang der Weltgeschichte eine neue, gar unerwartete Wendung geben? Das spektakuläre Ereignis vom 28. Juni 1914 lässt Zweifel aufkommen, wenn wir dem Ereignisablauf retrospektiv einen zwingenden Automatismus unterstellen. Auch wenn es sich hier um äußerst komplexe individuelle Vorgänge handelt, denen wir fälschlicherweise oft ex eventu einen epochalen Charakter zuweisen, hat der politische Mord doch einen hohen politisch-historischen Stellenwert. Dies umso mehr, wenn er hier an 29 Beispielen von der Antike bis zur unmittelbaren Gegenwart so fachlich kompetent, interessant und oft mit beachtlichem kriminalistischem Spürsinn aufgearbeitet erscheint.

Die einleitend vom Herausgeber formulierten methodischen und thematischen Vorgaben werden in den Einzelbeiträgen konsequent berücksichtigt, so dass der Sammelband in sich geschlossen wirkt: Hintermänner und Motive eines Mordes, sein politischer, gesellschaftlicher und kultureller Gesamtzusammenhang, seine Fanal- und Symbolwirkung und seine mögliche "Botschaft", seine Reich- und Tragweite, die Rolle des Individuums in der Geschichte und das Dilemma des Zufalls. Kontrafaktisch gefragt: Welchen Zufällen hatte Hitler am 20. Juli 1944 sein Leben zu verdanken und wie wäre die Entwicklung nach einem Gelingen des Attentates verlaufen?

Besondere Aufmerksamkeit verdienen - auch wegen ihres Symbolgehaltes - die Morde an Philipp II. von Makedonien, an Cäsar, Wallenstein, Franz Ferdinand, Matthias Erzberger, Mahatma Gandhi, John F. Kennedy, Martin-Luther King, Hans-Martin Schleyer, Aldo Moro, Yizak Rabin und zuletzt Zoran Djindjic. Jeder Beitrag vermittelt interessante Einblicke in das politische und soziale Gefüge des Gemeinwesens, in dem die Mordtat begangen worden ist, und in ihre Zeitumstände:

Der Tod Philipps II. ebnete seinem Sohn Alexander und damit dem Siegszug des Hellenismus den Weg. Die Ermordung Caesars, obwohl geplant zum Schutz der Republik, bereitete den Weg zum Prinzipat des Augustus. Das Attentat auf Erzberger führte ebenso wie die Tötung Aldo Moros zu einer zeitweiligen Solidarisierung der Demokraten, ohne den Blick auf die tiefen politischen Strukturdefekte der Weimarer Republik und Nachkriegsitaliens zu verstellen.

Gandhi wurde zum Märtyrer der indischen Unabhängigkeit, dies aber zu einem Preis, den er so niemals gewollt hatte. Die Ermordung Martin-Luther Kings brachte wichtige Impulse für den Durchbruch der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Mit der Ermordung Kennedys , deren Hintergründe und Motive wohl für immer in ein Geheimnis bleiben werden, starb für viele Amerikaner ein zukunftsweisender "American Dream". In Schleyer sollten das kapitalistische System, bürgerliche Selbstgefälligkeit und die Verweigerung der "Vätergeneration" getroffen werden, sich rückhaltlos mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Rabin wurde als eine charismatische Führungsgestalt der Aussöhnung mit den Palästinensern von der Kugel eines jüdischen Fundamentalisten getroffen. Der serbische Ministerpräsident Djindjic erschien den Europäern nach Milosevic als eine Lichtgestalt der serbischen Reformfähigkeit und war doch, wie wir heute wissen, tief in die mafiosen Strukturen seines Landes verstrickt.

Claus Leggewie reflektiert in anregender Weise darüber, warum in einem säkularen Transformationsprozess von einer "patriarchalischen Konstellation der Politik in eine metaphorisch als Vaterlosigkeit zu deutende Schwebesituation des Politischen" politische Mordanschläge sich nicht mehr notwendig wie früher gegen herausragende Herrscherfiguren richten, "sondern aus der Anonymität gegen einigermaßen wahllos herausgegriffene Repräsentanten des politischen Systems".

Michael Sommer (Hrsg.)

Politische Morde.

Vom Altertum bis zur Gegenwart.

Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005; 280 S., 29,90 Euro

Der Autor ist emeritierter Hochschullehrer für Neuere Geschichte an der Universität Hamburg.


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