Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 11 / 14.03.2005
Gerd Werle

Sprachenvielfalt: lieb und teuer

Europa spricht mit 20 Zungen
Der Turmbau zu Babel ist nach der biblischen Überlieferung daran gescheitert, dass Gott den Menschen nicht in sein Reich über den Wolken blicken lassen wollte und deshalb dafür sorgte, dass eine allgemeine Sprachverwirrung eintrat. Jeder redete in seiner Sprache, keiner verstand mehr den anderen. Beim europäischen Aufbauwerk geht es dagegen geregelt zu. Fast überall stehen qualifizierte Dolmetscher und Übersetzer bereit.

Mit der Erweiterung der Union hat sich die Zahl der Amtssprachen erst vor knapp einem Jahr auf 20 erhöht. Zunächst war man von nur 19 ausgegangen, weil damit gerechnet wurde, dass Malta dem Beispiel Luxemburgs aus den 50er-Jahren folgen würde und aufgrund seiner Mehrsprachigkeit auf die Landessprache verzichtet. Fast jeder Malteser beherrscht schließlich das Englische. Doch die Regierung in La Valetta besann sich anders. Die Mischung aus arabischen Elementen des Dialektes auf Sizilien wurde offizielle Sprache. Im Falle Zyperns ist Griechisch zwar seit 1981 Amtssprache, der türkisch dominierte Nordteil wird vorerst nach der gescheiterten Volksabstimmung im offiziell anerkannten Südteil aber nicht aufgenommen und Türkisch keine Amtssprache.

Die Frage, ob sich Europa weiterhin die Gleichberechtigung aller Gemeinschaftssprachen leisten kann bzw. leisten soll, stand bisher bei jeder der bisher fünf Erweiterungsrunden zur Debatte. Dabei ist sie rein hypothetisch, denn gemäß der Verordnung Nr. 1 der EU sind die nationalen Amtssprachen auch Amts- und Arbeitsprachen der Gemeinschaft. Alle europäischen Landessprachen sind prinzipiell gleichberechtigt.

Übersetzung der Dokumente

Sämtliche Dokumente der EU müssen in diesen Sprachen abgefasst sein, beispielsweise auch das offizielle EU-Amtsblatt. Wenn sich die EU-Kommission am Mittwoch zu ihrer wöchentlichen Sitzung trifft, wird dagegen nur Englisch, Französisch und ab und zu Deutsch gesprochen und auch nur in diese Sprachen gedolmetscht.

Bereits vor der letzten Erweiterung im Jahr 1995 gab es Stimmen, die sich für eine Reduzierung auf die drei Kommissionssprachen einsetzten. Dabei wird oftmals auf Regelungen wie beim Europarat verwiesen, bei dem die meisten Dokumente nur auf Englisch und Französisch zu erhalten sind. Bisher setzten sich jedoch die Befürworter der Mehrsprachigkeit durch, die in der jeweiligen Sprache einen unverzichtbaren Teil der jeweiligen Kultur der Länder sehen. Dabei werden in absehbarer Zeit noch mehr Sprachen hinzukommen: 2007 sollen Bulgarien und Rumänien aufgenommen werden, Kroatien dürfte bald folgen.

Der Übersetzungsdienst hat für das europäische Sprachengewirr seine eigene Taktik: Bei 19 beziehungsweise 20 Sprachen ergeben sich theoretisch 380 Kombinationsmöglichkeiten. Theoretisch, denn in der Praxis verwenden Dolmetscher und Übersetzer nicht erst seit dem 1. Mai so genannte Relais-Sprachen. So wird aus dem Tschechischen zunächst ins Englische und anschließend ins Dänische übersetzt, weil direkte Übersetzer kaum zur Verfügung stehen. Welcher Dolmetscher kann schon die Kombination Griechisch und Finnisch oder Estnisch und Maltesisch für sich in Anspruch nehmen?

Europas Sprachenvielfalt verschlingt rund die Hälfte des Verwaltungsbudgets für die verschiedenen Organe, fast zwei Prozent des Gesamthauhalts der Europäischen Union. Allein die letzte Erweiterung verursachte Mehrkosten in Höhe von fast 650 Millionen Euro. Das macht etwa zwei Euro pro Kopf der Bevölkerung pro Jahr aus - ein Wörterbuch ist teurer.

Damit leistet sich die Europäische Kommission den größten Übersetzer- und Dolmetscherdienst der Welt. Er übersetz jährlich mehr als 1,3 Millionen Seiten. Viele davon werden gleich an den Übersetzungscomputer "Systran" weitergeschoben. Weil Kollege Computer keine Synonyme zu kennen scheint, sondern stur immer wieder die gleichen Vokabeln und Redewendungen verwendet, lesen sich die meisten EU-Dokumente nicht gerade wie spannende Lektüre und tragen auch kräftig zur Sprachverarmung bei.

Neben den rund 1.500 Beamten des Sprachendienstes arbeitet noch eine Vielzahl freiberuflicher Mitarbeiter für die Europäische Union. Hinzu kommt der Gemeinsame Dolmetscher- und Konferenzdienst. Er wird pro Jahr in mehr als 11.000 Sitzungen eingesetzt. Täglich beschäftigt er bisher rund 700 Dolmetscher. Die EU-Kommission rechnet mit einem Mehr von 40 Übersetzern pro hinzukommender Sprache. Aus diesem Grund plant das Europäische Parlament mehr als 800 Stellen für Dolmetscher und Übersetzer neu zu besetzen.

Perspektivisch werden mit der Erweiterung die Arbeitssprachen Englisch und Deutsch weiter gestärkt, Französisch wird weiter an Bedeutung verlieren. Daran wird sich auch mit der Aufnahme Rumäniens nicht viel ändern.

Eine Sprache aber, in der sich beispielsweise viele Abgeordnete aus Ungarn, Polen, Tschechien, Estland und Litauen in den Kantinen des Straßburger Europapalastes austauschen, ist nicht vorgesehen: Russisch. Auch manch ein Parlamentarier aus Ostdeutschland, der zu DDR-Zeiten Russisch gelernt hat, könnte sich mit den neuen Kollegen noch in dieser Sprache verständigen.

Sprachenregelung bleibt erhalten

Radikale Änderungen am Sprachenregime wird es wahrscheinlich auch nach der Aufnahme weiterer Mitgliedsländer nicht geben. Schon aus rechtlichen Gründen müssen für den Bürger verbindliche Bestimmungen in alle Sprachen übersetzt werden. Ein Europaabgeordneter wird auch in einem erweiterten Europa weiterhin in seiner Muttersprache debattieren können. Immer wieder kursieren Vorschläge, wonach nur noch in einige wenige Arbeitssprachen übersetzt werden soll. Ob als Vorbedingungen für ein Mandat einmal Fremdsprachenkenntnisse verlangt werden, scheint unwahrscheinlich - denn dagegen spräche schon allein der Gleichheitsgrundsatz für alle europäischen Abgeordneten. Lösungsvorschläge für die Sprachenvielfalt in Europa und insbesondere im Europäischen Parlament bleiben jedenfalls auf der aktuellen Agenda.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.