Um den deutschen Sozialstaat scheint es schlecht bestellt zu sein - diesen Eindruck muss gewinnen, wer die Reformdebatten der jüngsten Zeit verfolgt. Was aber meinen die Bürger? Was erwarten sie vom Staat und wie stehen sie zum sozialstaatlichen Status quo? Welche Reformen finden ihre Unterstützung? Diese Fragen stellen sich vor dem doppelten Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit und der Erfahrungen mit der Versorgungsdiktatur DDR für Ostdeutschland mit besonderer Dringlichkeit. Nicht zufällig lag hier vor wenigen Monaten der Schwerpunkt der Proteste gegen Hartz IV. Der jüngste "Thüringen-Monitor", eine Repräsentativbefragung zur politischen Kultur, gibt für ein ostdeutsches Land Aufschluss über die Einstellungen der Bürger zur Reform des Sozialstaats.
Die im Westen verbreitete Vorstellung, dass die Ostdeutschen vor allem egalitär und staatsfixiert denken, findet sich in den Thüringer Daten erst einmal nicht bestätigt. Jeweils 60 Prozent der Befragten räumen im Konfliktfall der Freiheit Vorrang vor der Gleichheit ein und akzeptieren Einkommensunterschiede als Leistungsanreiz. Nur jeder Vierte definiert Gleichheit im Sinne einer gleichen Güterverteilung, das heißt als materielle Gleichheit. Vier von fünf Bürgern meinen, dass die Menschen sich nicht so viel auf den Staat verlassen, sondern ihre Probleme stärker selbst in Angriff nehmen sollten. All diese Antworten zeugen eher von der Bereitschaft zur Eigenverantwortung als von Gleichmacherei.
Freilich dokumentiert der "Thüringen-Monitor" auch andere Ergebnisse. Vor die Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit gestellt, optieren zwei Drittel der Befragten für letztere. Große Mehrheiten meinen, der Staat habe große, wenn nicht gar sehr große Verantwortung für die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Behandlungskosten bei Krankheit, die Stabilität der Renten und die Pflege alter Menschen. Drei Viertel sehen den Staat gar als Schuldigen für die problematische demographische Entwicklung in Deutschland.
In der Gesamtschau treten Spannungsfelder zu Tage, die wohl auch für Ostdeutschland insgesamt typisch sein dürften: So wird Eigenverantwortung groß geschrieben, zugleich aber nach umfassendem staatlichen Handeln verlangt; einerseits bekennen sich die Befragten zur Freiheit, andererseits dominiert der Wunsch vor allem nach sozialer Sicherheit. So spricht sich eine deutliche Mehrheit dafür aus, bei stagnierender Wirtschaft soziale Leistungen einzuschränken. Gleichzeitig hält aber jeder Zweite die Leistungen der Kranken- und der Rentenversicherung für zu niedrig. Während das Leitbild des aktivierenden Sozialstaats mit der jedenfalls partiellen Einschränkung von Leistungen verbunden ist, so scheinen die Vorstellungen der Bürger von den Sozialsystemen davon weitgehend unberührt.
Bei der Bewertung des Sozialstaats sind die Befragten geteilter Meinung. Während nicht ganz die Hälfte der Ansicht ist, dass er sich bewährt habe, bezweifelt dies eine knappe Mehrheit. Ausgesprochen positive Urteile kommen von Beamten und Selbständigen - beides Gruppen, die mit den Einrichtungen des Sozialstaats kaum persönlich zu tun haben. Bei denjenigen hingegen, die sozialstaatliche Leistungen überdurchschnittlich in Anspruch nehmen - wie etwa Arbeitslosen - überwiegen die skeptischen Töne.
Gewinner oder Verlierer?
Die tatsächliche oder auch nur vermutete Betroffenheit entscheidet maßgeblich darüber, welche Reformen bei den Thüringern Anklang finden und welche auf Ablehnung stoßen. Von insgesamt neun Reformvorschlägen werden drei mehrheitlich unterstützt: die steuerliche Entlastung der Arbeitnehmer (85 Prozent Zustimmung), die unlängst vom Bundeswirtschaftsminister wieder ins Spiel gebrachte Senkung der Unternehmenssteuern (58 Prozent) sowie die von Clement zugleich entschieden abgelehnte Wiedereinführung der Vermögenssteuer (77 Porzent). Auf den stärksten Widerspruch in der Bevölkerung stößt die Absenkung des Rentenniveaus. Zu den besonders umstrittenen Reformen zählen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die Beschränkung der Krankenversicherungsleistungen auf das medizinisch Notwendige und längere Wochenarbeitszeiten.
Umstritten sind diese Vorschläge nicht allein deshalb, weil sich keine klaren Mehrheiten dafür oder dagegen finden. Vielmehr gehen die Fronten hier mitten durch die Gesellschaft: Frauen wollen diese Reformen wesentlich seltener als Männer, niedrig Gebildete seltener als gut Gebildete, finanziell Schwache seltener als Gutsituierte. Deutliche Unterschiede ergeben sich danach, ob die Befragten annehmen, dass sie selbst eher zu den Gewinnern - das sind 28 Prozent der Befragten - oder eher zu den Verlierern beim Umbau des Sozialstaats (45 Prozent) gehören. So unterstützt knapp die Hälfte der mutmaßlichen Reformgewinner längere Arbeitszeiten, von den Verlierern ist es aber nur ein Viertel. Eine Erklärung für die Reformskepsis in einzelnen Gruppen bietet die Zusammensetzung der mutmaßlichen Verlierer. Unter ihnen sind Frauen, niedrig Gebildete und finanziell Schwache überrepräsentiert. Frauen sehen sich nicht nur selbst eher als Verlierer des Umbaus: Danach gefragt, welches Geschlecht eher von den Reformen profitiert, sieht die klare Mehrheit der Befragten die Männer auf der Gewinnerseite. Nur jeder Sechste glaubt, dass die Frauen mehr gewinnen.
Für die Politik alarmierend sind jedoch zwei andere Befunde: Drei von vier Befragten meinen, dass insgesamt nur eine Minderheit bei einem Umbau der sozialen Sicherungssysteme gewinnt. Diese Ansicht wird selbst von denjenigen mehrheitlich vertreten, die sich eher als Gewinner sehen. Darüber hinaus hat die Selbsteinschätzung als potenzieller Verlierer oder Gewinner Bedeutung für die Bewertung der Demokratie: Unter den Gewinnern beim Umbau des Sozialstaats ist der Anteil zufriedener Demokraten etwa doppelt so hoch wie in der Kontrastgruppe der Demokratiegegner. Hier beläuft sich der Anteil auf weniger als die Hälfte.
Neben unübersehbaren Warnsignalen enthält der Thüringen-Monitor aber auch positive Nachrichten für die Politik. So ist ungeachtet der Proteste gegen Hartz IV die Demokratiezufriedenheit im Vergleich zum Vorjahr deutlich gestiegen. Vor allem aber besteht jenseits von Verunsicherung und konkreten Vorbehalten eine generelle Reformbereitschaft. Mit einem überzeugenden, transparenten und auf soziale Ausgewogenheit bedachten Reformkonzept dürften viele Bürger für die - auch nach ihrer Meinung - erforderliche Umgestaltung des Sozialstaats zu gewinnen sein.