In der Versöhnungsfabrik: Das deutsche Kino entdeckt die Volkspädagogik
Doch der Film spielt in den späten 20er-Jahren, und erzählt eine wahre Begebenheit, die "Steglitzer Schülertragödie". Erstaunlich ist die Leichtigkeit, mit der der Regisseur hier die historische Epoche darstellt: "Was nützt die Liebe in Gedanken" zeigt ein 20er-Jahre-Berlin fast ohne Klischees, ohne aufdringliches High-Life, ohne wilde Kulissenschieberei, ohne Naziflaggen, die unheilschwanger auf die Zukunft weisend durchs Bild getragen werden, das dabei doch viel widerspiegelt von der Atmosphäre der Epoche, und dem es dabei gelingt, ganz heutig zu sein, uns seine Figuren über die zeitliche Entfernung hinweg nahe zu bringen.
Mit alldem ist dieser Film allerdings nicht gerade typisch für die Neuentdeckung der Geschichte, die das deutsche Kino im Jahr eins nach Wolfgang Beckers sensationellem Erfolg mit "Good Bye Lenin" erlebt. 56 Filme aus Deutschland liefen auf der diesjährigen Berlinale, wo Beckers Triumphzug vor einem Jahr begann. Das sind so viele wie nie zuvor, mal wieder ein Rekord also fürs deutsche Kino. Zur Eröffnung der Berlinale wurde aber einmal mehr ein US-amerikanischer Film, das Bürgerkriegsmelodram "Cold Mountain", gezeigt. Das Kino Hollywoods hat sich schon immer, seit seinen Stummfilmanfängen in Griffith "Birth of a Nation", besonders der Idee des Nationbuilding verschrieben, der imaginären Zusammenführung der unterschiedlichen Elemente der Bevölkerung - die im "Melting Pot" Amerika auch besonders Not tut. Die Traumfabrik war auch Gemeinschaftsfabrik.
Neuerdings erlebt man dergleichen, wenn auch noch etwas hölzern und unsubtil, auch im deutschen Kino. Zum Beispiel Sönke Wortmanns "Das Wunder von Bern". Das WM-Finale von 1954 wurde bereits früher einmal verfilmt, indirekt zumindest: In Rainer Werner Fassbinders Meisterwerk "Die Ehe der Maria Braun" (1978) spielte der Regisseur die letzten dramatischen Minuten der legendären Radioreportage Herbert Zimmermanns in voller Länge: "Aus! Aus! Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister!" hallt es über die Leinwand, und dann ist es auch aus mit der Ehe der Maria Braun und dem Film - und die junge Bundesrepublik ist in Fassbinders Augen angekommen im Nachkriegswirtschaftswunderland. Fußball als Teil nationaler Mythologie, freilich einer gebrochenen, in der das erleichterte "Wir sind wieder wer" mitunter klang wie Pfeifen im Wald, in der der erste Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft gespiegelt wird durch eine Katastrophe.
Das liegt heute länger zurück, als damals das Finale im Berner Wankdorfstadion. Auch Sönke Wortmann erzählt "Das Wunder von Bern" nicht in erster Linie als Fußballgeschichte. Der Ausgang ist ja bekannt, also hält sich die Spannung in Grenzen, obwohl die Nachahmung der Spielszenen recht gut gelingt. Doch sonst wackeln die Kulissen. Keine Frage: Wortmann hat viel Mühe auf die detailgenaue Rekonstruktion der 50er- Jahre verwendet, doch gerade darum wirkt alles museal, leblos. Noch dem Dreck sieht man das liebevolle Arrangement der Ausstatter an. Ähnlich arrangiert und "gemacht", unauthentisch wirken auch die Menschen, die hier betont altmodisch und bis zum plumpen Klischee Dialekt sprechen. So reproduziert Wortmann - bestenfalls unbedarft, schlimmstenfalls bewusst ideologiestiftend - die Bildwelten des Heimatfilms, ohne auch nur einen Gedanken auf ihre Herkunft zu verschwenden. Das ist mehr als Nostalgie, es ist falsche Versöhnung, Lüge, die Wahrheit übertünchen soll. Vor der Versuchung, à la Hollywood den Kostümfilm als Bewegungskino, als sentimentalen Rausch zu inszenieren, ist in diesem Fall allerdings der Stoff vor: Denn auch der Fußballmythos ist nur Kulisse für das Drama der Kriegsheimkehrer. Die Hauptfigur ist ein spät zurückkehrender Vater, der im Krieg natürlich keinerlei Schuld auf sich lud, trotzdem unter Verdacht steht, und überhaupt die neuen Verhältnisse stört, und sich erst über den WM-Sieg mit seinem Sohn versöhnen kann. Das Fußballwunder wirkt einmal mehr als Therapie und Verdrängungsmaschine.
Ziemlich ähnlich, nur oberflächlich ganz anders, funktioniert auch Margarethe von Trottas "Rosenstraße". Der Kern der Handlung ist anrührend und moralisch brisant: Widerstand war möglich im Dritten Reich. Es hat ihn hier gegeben, und er hatte Erfolg. Die historische Wahrheit - öffentliche Proteste "arischer" Deutscher gegen die Verhaftung ihrer "nichtarischen" Lebenspartner im Februar 1943 - wird freilich zum Kunstwerk erst da, wo sie auch eine Gestalt erhält. In Trottas Händen ist es Ausbeutungs-Kino für Gutmenschen. Sie benutzt die Judenverfolgung primär als Kulisse für ein doppeltes privates Melodram und als kulturpolitisch verwertbare Dienstleistung: Frauenpower '43 - nichts ist dagegen zu spüren von Abgründen und Todesangst. Man bleibt im vertrauten Kinoterrain der mundgerechten Konsumierbarkeit des Völkermordes, wo die Nazis blitzblanke Uniformen tragen, laut schreien und auch mal böse in die Luft schießen - und ansonsten von grundguten Deutschen umzingelt sind. Goebbels ist nicht mehr als ein blasierter Zwerg, der sich von Katja Riemann gern rumkriegen lässt, um als Belohnung den Holocaust kurz wieder abzublasen - eine peinliche Banalisierung des Terrors.
"Rosenstraße" macht sich so ziemlich jedes Einwands schuldig, der sich überhaupt gegen Spielfilme über reale Ereignisse während der Nazi-Zeit vorbringen lässt: Er zeigt nicht einen einzigen der Millionen Toten, er zeigt Nazis nur als harmlose Fratzen, er zeigt nicht die Mörder und die Opfer, sondern die Überlebenden und die Retter. Indem der Zuschauer, so legt es der Film nahe, sich mit ihnen identifizieren darf, darf er sich auch trösten, wo es in der Wirklichkeit wenig Trost gibt. Und die tapferen Heldinnen des Films sind durchweg "deutsche", das heißt arische deutsche Frauen. Dass dieser Film, wie ein Kritiker schrieb - er meinte dies als Lob - "die Lektüre der Geschichte verändert", wäre, wenn es stimmen sollte, ja gerade das Problem.
Den Hauptvorwurf, den man beiden Filmen machen muss: Sie rechtfertigen, wo sie in Frage stellen müssten, stiften Selbstzufriedenheit, wo es interessanter - und moralisch angemessener? - wäre, Zweifel zu säen. Beide Filme und in gewissem Sinn auch der weitaus bessere "Good Bye Lenin!" belegen: Die Haltung gegenüber der Vergangenheit hat sich gewandelt. An Stelle unbequemer Infragestellung ist eine sonderbare Eindeutigkeit getreten, die Fragen möglichst nicht mehr stellen, sondern Bilder zur nationalen Sinnstiftung schaffen will. Nach über 15 Jahren haben offenbar die Revisionisten im "Historikerstreit" der 80er-Jahre doch noch gesiegt - in der Verlängerung sozusagen. Der Historismus verbündet sich mit einer neuen Art von Volkspädagogik: Es geht nicht mehr darum, der älteren Generation pauschal Mitschuld zuzusprechen, sondern umgekehrt um Entlastung - worin sich diese Filme ganz gut in andere Debatten des letzten Jahres fügen, wie der um Bombenkrieg und Vertreibung, worin sie aber auch zu der jüngst am Beispiel der sächsischen Gedenkstättenpolitik heftig kritisierten neuen Tendenz passen, differenzierte Erinnerungen einzuebnen.
Viele kleine Wahrheiten schaffen eine neue, glatte. Wo man das große Ganze überhaupt zeigen will, wird die Geschichte zum Erlebnispark, der nebenbei überdies noch zur Rechtfertigung der Gegenwart taugen soll - Kino als Versöhnungsfabrik. Man wird ein weiteres Beispiel dieser Haltung wahrscheinlich im Herbst besichtigen können, wenn Bernd Eichinger sein Führerbunkerdrama "Der Untergang" als "deutsche Version der ‚Titanic'" (Eichinger) inszenieren will: Mit Alexandra Maria Lara, die in der Rolle der Hitler-Sekretärin Traudl Junge als deutsche Kate Winslet die Katastrophe überlebt, und rußbeschmiert uns Zuschauer aus dem zerbombten Berlin hinausgeleitet - hinein in die schöne neue Bundesrepublik.