Ziemlich klare Verhältnisse vor den Präsidentenwahlen
US-Außenminister Colin Powell mag noch so viele kritische Artikel über die Politik Russlands in der "Izvestia" veröffentlichen und die Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten, Condoleezza Rice, noch so viele "gute Gründe" aufzählen, warum man sich über die Zukunft Russlands Sorgen machen muss. Egal. Die Russen werden Putin wählen. Mit Blick auf die politische Kultur im Lande ist dabei kritisch anzumerken, dass der Präsident keinen starken Gegenkandidaten hat. Allein der Demokratin Irina Chakamada bleibt die Ehre, eine überzeugende Mitbewerberin um das höchste Amt im Staat zu sein. Eine echte Chance hat allerdings auch sie nicht, zumal die politischen Kräfte, die sie stützen, zerstritten und schwach sind. Alle anderen sind in den Augen der Wähler unglaubwürdig.
Die Frage "Wer ist Putin?" stellt niemand mehr. Sie ist seit langem beantwortet. Allein in Deutschland liegen inzwischen sechs Biographien über ihn vor, in Russland stolze 18! Die Menschen kennen seinen Lebenslauf und seine Taten. Dessen ungeachtet bleibt der Kreml-Herr ein Rätsel. Auch politisch, denn für eine Überraschung ist Putin immer gut. Für viele ist seine Politik schlicht unberechenbar. Das trifft vor allem für die Innenpolitik zu. Erinnert sei an dieser Stelle an die Entlassung der Regierung genau zwei Wochen vor der Wahl.
Diese Einschätzung mag der Tatsache geschuldet sein, dass über die innenpolitische Entwicklung Russlands unter Präsident Putin weit weniger stark informiert wird als über seine Außen- und Sicherheitspolitik. Natürlich gibt es gute Gründe, die Atommacht Russland nicht aus den Augen zu verlieren. Auch legte Putin selbst von Anfang an einen Schwerpunkt seines Regierungshandelns auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Dazu passt, dass er sich öfter im Ausland aufhielt als in der russischen Provinz. Nahezu vier Jahre hat der Präsident gebraucht, um zu verstehen, dass die Sanierung der russischen Wirtschaft wichtiger ist als ein weiterer Staatsbesuch in Nord-Korea. Oberste Priorität hat jetzt, so ein zentrales Ziel des Präsidenten, die Verdoppelung des russischen Bruttoinlandprodukts.
Warum wird die überwiegende Mehrheit der Russen den Präsidenten im Amt bestätigen? Putin ist einer von ihnen und ungeachtet seiner Position volksnah geblieben. Das signalisiert seine Art zu sprechen und sich zu bewegen. Hinzu kommt, dass es dem Kreml-Herrn durch eine geschickte Medienarbeit gelungen ist, in jeder russischen Familie präsent zu sein. In seinen Kindheitserinnerungen erkennen sich Millionen Russen wieder.
Aufgewachsen ist der Präsident in einer kleinen Einraumwohnung, der so genannten Kommunalka (Gemeinschaftswohnung). Sein Vater war einfacher Fabrikarbeiter, seine Mutter Putzfrau. Dass es Putin, der selbst für die Sowjetunion aus kleinen Verhältnissen stammt, bis nach ganz oben geschafft hat und dabei "sauber" geblieben ist, macht ihn für viele zum Helden. Selbst in den bewegten Jahren nach dem Zerfall der UdSSR tauchte sein Name nie im Zusammenhang mit Neu-Reichen oder Jelzins "Demokraten" im Dunstkreis des Kreml auf. Von der Party-Szene hielt sich Putin ebenso fern wie von den Titelseiten der russischen Yellow-Press mit ihren mondänen, diamantengeschmückten Schönen. Konsequent mied er diese Minderheit, die in dem neuen "demokratisch-kapitalistischen" Russland ihr Leben genießen durfte. Die pauperisierte Mehrheit interessierte damals nicht, außer vielleicht die Kommunisten, die Faschisten und andere politische Rattenfänger.
Zudem hatte Putin keine freundschaftlichen Kontakte zu denjenigen unterhalten, die das Staatseigentum privatisierten und das korrupte Oligarchen-Netz zu erschaffen halfen. Somit kann die Kreml-Clique, die die Staatsform der Demokratie in den Augen von Millionen Russen nachhaltig diskreditierte, vordergründig nicht in Verbindung mit Putin gebracht werden. Das alles erklärt die Sympathie, mit der die Menschen dem Präsidenten begegnen. Übersehen wird in diesem Zusammenhang gerne, dass Putin nur durch seine bedingungslose Loyalität zu dieser vormaligen Kreml-Mannschaft überhaupt an die Spitze des Staates gelangen konnte. Nur der Legende nach war er nicht mehr als ein treuer Staatsdiener.
Wladimir Putin hat in den Augen seiner Wähler aber auch noch andere Qualitäten: Er ist weder Alkoholiker noch Quartalssäufer, außerdem muss man sich als russischer Patriot nicht für sein Benehmen im In- und Ausland schämen. Vielmehr vertritt er Russland würdig, selbstbewusst und stolz. Dabei spricht der Präsident Klartext und bedient sich einer für jeden Russen verständlichen Sprache. Sogar seine via TV übertragenen Wutausbrüche und verbalen Entgleisungen, die den Zuschauern in die Wohnzimmer flimmern, mehren sein Ansehen, da sie Putin menschlich erscheinen lassen. Aussprüche des Präsidenten haben inzwischen Kultstatus. Bereits früh eroberte sich Putin einen festen Platz in den Herzen der Menschen, als er in seiner ersten Erklärung als Ministerpräsident nach den Terroranschlägen in Moskau und dem Angriff einer tschetschenischen Bande auf Dagestan im Sommer 1999 sagte: "Wir machen die Tschetschenen platt, auch wenn sie auf dem Klo sitzen". Damit traf er den Nerv der Russen, die von den Tschetschenien-Kriegen und den Terroristen schlicht die Nase voll hatten und eine schnelle Lösung der Probleme erwarteten. Nach dem Terroranschlag am 6. Februar 2004 in der Moskauer U-Bahn fasste sich Putin kürzer: "Wir werden die Terroristen vernichten".
Seit vergangenem Jahr hat sich der Kreml-Herr dem Kampf gegen die Korruption im Land verschrieben. Dabei hat er sich in den Augen der Bürger höchste Meriten erworben: So schreckte der Präsident nicht davor zurück, die Crème de la Crème der russischen High Society, die berühmt berüchtigten Dollar-Milliardäre, an den Pranger zu stellen. Dem Beobachter gelang dabei ein Blick hinter die Kulissen des Putin-Systems: Wohl kalkuliert ließ der Präsident nur die "Oligarchen" unter Druck setzen, die sich dem neuen Kreml-Herrscher nicht unterordneten, indem sie beispielsweise seine sicherheitspolitischen Ziele weiterhin in Frage stellten. Bis dahin war es den "Oligarchen" immer wieder gelungen, sich aufgrund ihrer engen Kontakte in den Kreml freizukaufen. Die rechtsstaatliche Offensive Putins hat diesen Ausweg jetzt versperrt. Das Volk musste von dieser Politik der "harten Faust" nicht überzeugt werden. Schließlich bezweifelt in Russland niemand, dass die riesigen Vermögen der Oligarchen nur durch dunkle Machenschaften während der Privatisierungsphase des Staatseigentums erworben werden konnten.
Die zuletzt erfolgte Verhaftung einer der Superreichen zeigte den Menschen, dass es sich bei Putins Kampf gegen die Korruption nicht um eine PR-Aktion handelt. Im Gegensatz übrigens zu Boris Jelzin, der Organisierte Kriminalität und Korruption in regelmäßigen Abständen rhetorisch bekämpfte. Tatsächlich krümmte die "Familie" Jelzins keinem der Milliardäre auch nur ein Haar. Die Entlassung von Ministerpräsident Michail Kasjanow und die Ernennung des "Saubermanns" Michail Fradkow zum neuen Regierungschef ist ein weiteres Signal an die Wähler. Offen ist allerdings, ob der Präsident auf diese Weise nicht eine neue Verteilung des Eigentums in Russland einleitet. "Das Zar-Väterchen ist gut, nur die Bojaren sind schlecht!" Damit trösten sich die Russen Jahrhunderte lang. Heute sind an die Stelle des Hochadels die Beamten getreten. So wie früher die Bojaren knebeln nunmehr die "Staatsdiener" die kleinen und mittelständischen Unternehmer: Sie kassieren "Schutzgelder" darin der Organisierten Kriminalität durchaus verwandt. Zusätzlich zu der von Putin eingeführten Einkommensteuer in Höhe von 13 Prozent und der Gewinnbesteuerung in Höhe von 24 Prozent werden sie von den Beamten regelrecht ausgenommen.
Auf einem anderen Gebiet ist der Präsident erfolgreicher: Gegen den Widerstand der Kommunisten setzte er die für Russland revolutionäre Entscheidung durch, den Bauern das Land zu übereignen, das sie bearbeiten. Diese Privatisierung von Grund und Boden ist ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu einer marktwirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Dass übrigens die Staatsduma ganz nebenbei auf persönlichen Wunsch des Präsidenten die Hymne der Sowjetunion zur neuen Nationalhymne Russlands machte, ist eine Reminiszenz an die Vergangenheit.
Während seiner ersten Amtszeit half die Weltkonjunktur Putin bei der Durchsetzung seiner Reformen. Die enormen Preissteigerungen für die russischen Öl- und Gasexporte halfen dem Präsidenten, sich aus politischen Abhängigkeiten zu befreien, die zusätzliche Auslandskredite mit sich gebracht hätten. Zugleich lehnte er kategorisch alle Versuche internationaler Finanzorganisationen ab, ihn zur Aufnahme neuer Schulden zu bewegen. Inzwischen zahlt Russland in regelmäßigen Raten seine Verbindlichkeiten in Höhe von 129 Milliarden US-Dollar zurück. Außerdem gelang es, die russischen Devisenreserven auf nahezu 90 Milliarden US-Dollar aufzustocken. Dennoch konnte Putin keine neuen Industriearbeitsplätze schaffen. Dem Chaos in Russland versucht Putin mit einer gelenkten Demokratie Herr zu werden. Dazu ernannte er sieben "General-Gouverneure", die als seine persönlichen Vertreter insgesamt 89 Föderationssubjekte kontrollieren sollen. Nicht zufällig entsprechen ihre Grenzen denen der russischen Militärbezirke. Außerdem verschärfte der Präsident das Parteiengesetz und torpedierte so die Demokratisierung auf der kommunalen Ebene. Natürlich wird die Beamtenschar nicht ohne Kalkül vergrößert. Ein Volk, das satt ist, bestätigt seine politische Führung nur umso lieber im Amt. Hinzu kommt, dass es Putin gelungen ist, den Anschein zu erwecken, als habe er Ruhe und Ordnung im Staat wiederhergestellt, fast so wie zur Sowjetzeit.
Ob diese patriotische Front der Vaterlandsverteidiger dereinst den riesigen Staat demokratisieren kann, wird nicht mehr in Putins Händen liegen. Denn die Geister, die er an die Macht gebracht hat, werden jeden Politiker und jede Partei beseitigen, die versuchen, sie von den erlangten Machtstellungen zu vertreiben. Aber so weit wird es in absehbarer Zeit gar nicht erst kommen. Immerhin bleibt die Hoffnung, dass sich Präsident Putin in seiner zweiten Amtszeit verstärkt dafür engagiert, die anti-demokratischen und autoritären Strukturen von oben zu reformieren. "Unhaltbar ist die Position", meint Professor Gerhard Simon aus Köln, "die große Teile der politischen Öffentlichkeit in Westeuropa und Nordamerika und noch mehr die politischen Führer im Westen eingenommen haben: Russland sei 'im Wesentlichen' ein demokratischer Staat, das Land werde immer kompatibler mit westlichen liberalen Demokratien. Zu rasch hat der offizielle Westen demokratische Gütesiegel verteilt, die sich jetzt als ungedeckte Wechsel auf die Zukunft erweisen."