Russische Schönbergschülerin
Nicht selten ist es das Einzelschicksal, das exemplarisch die furchtbaren und stets destruktiven Folgen der aus den Fugen geratenen europäischen Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Fall des Eisernen Vorhangs vor Augen führt. Wie wahllos in dieser düsteren Zeit große Erwartungen und Hoffnungen zu Grabe getragen werden mussten, wird am Schicksal der fast nur Insidern bekannten Schönbergschülerin Natalia Prawossudowitzsch auf beklemmende Weise deutlich.
Ausgestattet mit außergewöhnlichem Talent erhielt die 1899 in Vilnius in Litauen geborene Russin zu ihren Lebzeiten nie eine wirkliche Chance, sich einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. So ist es ein Glücksfall, dass sich seit einigen Jahren ein kleiner Kreis von Kennern und Anhängern mit Vehemenz dafür einsetzt, dass ihr Leben und Schaffen nicht ganz entschwindet. Eine Vorreiterrolle spielt dabei der Kulturverein Rus im Südtiroler Meran, wo die Komponistin den größten Teil ihres Lebens von 1931 bis zu ihrem Tod im Jahr 1988 verbracht hat.
Die Leiterin des Vereins, Bianca Marabini Zoeggeler, hat mit großem Aufwand Materialien und Fakten zum Leben von Natalia Prawossudowitsch gesammelt. Ihre gemeinsam mit dem Historiker Michail Talalay verfasste Kurzbiographie liegt nun mit den knappen Erinnerungen der Komponistin sowie einigen wertvollen Beiträgen zu deren Werk und ihrer Person in einem spannend zu lesenden Buch vor, das entsprechend den Lebensphären dieser Frau dreisprachig in deutsch, italienisch und russisch abgefasst ist. Es ist über die Musik hinaus ein Zeitzeugnis ersten Ranges.
Das Schicksal der Künstlerin rüttelt auf. Ihr Weg in die Flucht beginnt eigentlich schon 1917, als die Abtrennung Litauens von Russland erkennbar wird und die Eltern nach Petersburg gehen. Mit der Revolution beginnt für die Familie eines höheren Bahnbeamten ein Leben voller Gefahren, die zunächst alle optimistisch ignorieren. Natalia, von der Mutter am Klavier ausgebildet, belegt bei der Gattin des Komponisten Skrijabin am Konservatorium in Petersburg Kurse für Fortgeschrittene, hört aber nach dem Tod der Lehrerin 1920 abrupt auf, um Komposition zu studieren. Als Tochter eines Aristokraten darf sie dies nur noch als Fernstudentin. Schließlich sorgt der Leiter des Konservatoriums, Alexander Glasunow, vor seiner eigenen Flucht ins Ausland dafür, dass die junge Frau ab 1929 in Berlin bei Arnold Schönberg weiter studieren kann.
Ihr Vater wird als Klassenfeind im Arbeitslager ermordet, ihre Mutter stirbt und Schwester wie Bruder wird sie nie wiedersehen. Von materiellen Sorgen ausgezehrt, wird ihr ein Erholungsaufenthalt der russischen Stiftung "Borodine" in Meran vermittelt. Sie ahnt nicht, dass ihr dieser von reichen Landsleuten zur Zarenzeit geschätzte Südtiroler Kurort zur endgültigen Heimstatt werden soll.
In Meran muss sie - von Anfang an auf die Unterstützung Dritter angewiesen und am Rande der Not lebend - nach dem Pakt zwischen Hitler und Mussolini Zurückhaltung üben, damit sie nicht deportiert wird. An Komponieren ist da nicht mehr zu denken. Es ist tragisch und mutet im Nachhinein fast grotesk an, dass sie im Herbst 1962 bei einem Wettbewerb in Buenos Aires mit ihrer Klaviersonate op. 13 aus dem Jahre 1925 den ersten Preis gewinnt.
Das sorgfältig edierte, reich bebilderte und mit einem Werkverzeichnis versehene Buch versteht sich als Hommage auf die Künstlerin und ist eine Huldigung an die russische Musik und an Meran. Das mindert den Aussagewert nicht, weil die einzelnen Fachbeiträge durch den Willen zur Objektivität gekennzeichnet sind. Das Buch rüttelt auf und verdeutlicht, dass in der Komponistin - von Schönbergs Zwölftonmusik fast unbeeinflusst - eine Erbin Skriajbins zu sehen ist, die es noch zu entdecken gilt. Es wäre zu wünschen, dass das Buch dies erreicht und damit einer Frau der Rang zuteil wird, der ihr versagt blieb, weil sie "ihr künstlerisches Credo zur falschen Zeit am falschen Ort" vertreten hat. Karl Klebe
Bianca Marabini Zoeggeler / Michail Talalay
Musik im Exil / Musica in esilio.
Die Schönbergschülerin Natalia Prawossudowitsch.
Folio Verlag, Wien/Bozen 2003; 128 S., 25,- Euro