Schülerinnen kämpfen um Stolpersteine des Gedenkens
Das war voll der Schock." Lucia Hundt kann ihre Heimatstadt nicht verstehen. Die 17-jährige Schülerin des Luisengymnasiums hat gemeinsam mit ihrer Freundin und Klassenkameradin Anya Deubel dafür gesorgt, dass im Stadtteil Bogenhausen der Kölner Künstler Gunter Demnig seine ersten beiden Stolpersteine in München verlegen konnte. Doch der Stadtrat hatte etwas dagegen und ließ die Steine wieder entfernen.
Dabei stößt Demnig mit seinen Gedenksteinen, die er in Bürgersteige einlässt, um an letzte Wohnorte deportierter Juden und Widerstandskämpfer zu erinnern, normalerweise bei den Gemeinden auf großes Interesse. Inzwischen hat er bundesweit über 3.500 Betonwürfel mit beschrifteten Messingplatten verlegt. Doch in München soll anders der Opfer des Nationalsozialismus gedacht werden. Münchens Oberbürgermeister Christian Ude spricht von einer "Münchner Linie" und verweist vornehmlich auf Charlotte Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in München, die den Gedanken unerträglich findet, dass mit Schuhen auf Namen von Opfern getreten wird.
1941 in Kaunas", stand auf einem der zehn mal zehn Zentimeter kleinen Steine. Daneben lag der Stein für Paula Jordan. Auf Anregung ihres früheren Sozialkunde- und Geschichtslehrers Wunibald Heigl machten die Schülerinnen die Stolpersteine zu ihrem Thema, an dem im Rahmen der jährlich stattfindenden Projekttage gegen Rassismus bis zu 15 Schüler mitarbeiteten. Sie erforschten das Leben der Jordans, sammelten Geld und Unterschriften für die Steine. Die Schülerinnen trafen sich mit der Nichte, der in London lebende Sohn gab sein Einverständnis für diese Form des Erinnerns.
Lucia und Anya sind nicht erst seit den Stolpersteinen politisch aktiv. Das über 180 Jahre alte städtische Luisengymnasium in der Nähe des Hauptbahnhofs, einst als Schule für höhere Töchter gegründet, hat den Ruf, gesellschaftliches Engagement zu fördern. Und das bedeutet, dass man von einem linken Gymnasium spricht. Es gehört zu einem europaweiten Netzwerk von Schulen, die sich den Kampf gegen Diskriminierung auf ihre Fahnen geschrieben haben. "Schule ohne Rassismus. Schule mit Courage", steht auf einem Schild neben dem Haupteingang. Lucia und Anya, die als Einzelkinder bei ihren allein erziehenden Müttern wohnen, schulen bereits Sechstklässler in der Wahrnehmung ausgrenzenden Verhaltens. "Wir versuchen, Vorurteilen vorzubeugen oder sie abzuschaffen", sagt Anya.
Letztes Jahr ist ihre Klasse mit Lehrer Heigl nach Wien gefahren und hat dort nach rechtsradikalen Graffiti Ausschau gehalten. Mit einer anderen Klasse fuhr Heigl nach Rostock. Für seinen Unterricht ist praktizierte Zivilcourage zentral.
So ist er mit seiner zehnten Klasse zur Verlegung der Steine gekommen, die an einem Dienstagvormittag Ende Mai stattfand. "Unterrichtsgang", nennt er das. Es sei darum gegangen, eine Form gewaltlosen zivilen Ungehorsams kennen zu lernen. "Die Schüler haben mitbekommen, wie es ist, wenn man was illegal macht." Illegal. Demnig hat die beiden Steine für das Ehepaar Jordan in der Mauerkircher Straße ohne Rechtsgrundlage in den Gehweg gefügt. Er hat das schon öfter gemacht, so in Berlin und Freiburg. Es ging jeweils gut, weil die Stadträte im Nachhinein die Aktionen absegneten. "So was hätten wir eben auch erwartet", sagt Anya. Sie hatte mit Lucia als Patinnen der Steine von der Schulleitung für zwei Stunden frei bekommen. Der Sohn Jordans, der 1938 als zwölfjähriger nach England geschickt worden war, reiste eigens aus London an, legte Flieder auf die Steine seiner Eltern und fand ein paar Worte: "Es wird nie wieder so sein, dass ich München als meine Heimat empfinden kann. Aber durch die Steine fühle ich mich zum ersten Mal wieder ein wenig daheim." Das Gefühl währte drei Wochen.
"Dass die Stadt so reagiert, war schon heftig", sagt Anya. "In würdevoller Form", heißt es aus der Pressestelle des Oberbürgermeisters, seien die Steine auf dem jüdischen Friedhof unter zwei Bäumen nun verlegt worden. "Was ist da würdevoll, wenn auf dem Stein steht `hier wohnte´, und es ist auf dem Friedhof."
Anya versteht vor allem nicht, dass es die Stadt nicht für nötig hielt, sie und Lucia oder Herrn Jordan zu informieren. "Das ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise wird das bei jedem falsch abgestellten Auto gemacht." Anya und Lucia geht es nicht darum, Verbotenes zu tun. Sie sind beeindruckt vom Konkreten und Privaten, die diese Art des Gedenkens besitzt. "Das ist mal was vollkommen anderes", sagt Lucia. Dass aus den anonymen, nicht vorstellbaren sechs Millionen Ermordeten der Shoah, die im Geschichtsunterricht Lernstoff waren, Einzelne sichtbar werden, indem der kleine Stein mit Messingplatte nun vor dem letzten Wohnort liegt. Andererseits ist beiden wichtig, dass die Steine kein Gedenken verordnen, wie das zentrale Feiern und Mahnmale tun, sondern dass es Sache jedes Fußgängers bleibt, wenn er einem solchen Stein begegnet, sich Gedanken zu machen.
Nun ist es für die Schülerinnen eine Frage der Zivilcourage, nicht klein beizugeben, das städtische Nein nicht zu akzeptieren, Unterschriften zu sammeln, in der Innenstadt Mahnwachen abzuhalten. Was sie sehr ärgert, ist die Art und Weise, wie sie die Stadt behandelt: von oben herab und leicht despektierlich, als ob sie kleine Mädchen wären, die sich im blinden Aktionismus üben und von nichts eine Ahnung haben. Sie beschleicht ständig das Gefühl, belehrt werden zu sollen, nicht aber angehört zu werden. So auch jüngst, als die SPD-Ratsfraktion sie zum Gespräch einlud. "Das hat wenig gebracht. Von Gespräch konnte da nicht die Rede sein", meint Anya. Und Lucia bilanziert: "Wir hätten erwartet, dass sich Ude mehr Mühe gibt." Beide wollen nun versuchen, mit Frau Knobloch, der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde, in Kontakt zu treten. "Man kann auf jeden Fall von der Haltung der Kultusgemeinde nicht auf die der jüdischen Bürger schließen." Der Unterstützung des Initiativkreises Stolpersteine um den Künstler Wolfram Kastner und den Schriftsteller Uwe Timm sind sich die beiden gewiss. Christoph Oellers