Sitzen bleiben kostet Zeit und Geld
Zeugniszeit ist immer auch Zitterzeit. Wenn vor den großen Ferien die entscheidenden Noten des Schuljahres erteilt werden, halten sich landauf und landab nicht nur verständnisvolle Eltern bereit, sondern auch Sorgentelefone für Schüler, die sich mit ihrem Zeugnis nicht nach Hause trauen. Regelmäßiger Grund für den verzweifelten Besuch beim Schulpsychologen: Das Urteil "Sitzen geblieben! Klasse wiederholen!" Dabei ist das Drehen der so genannten "Ehrenrunden" nicht nur ein mehr oder weniger großes persönliches Drama für jeden Schüler. Es wird auch zunehmend von Pädagogen bezweifelt, dass das Widerholen einer Klasse sinnvoll ist. Die internationalen Bildungsvergleiche Pisa und Iglu kommen nicht zu dem Ergebnis, dass Schulsysteme, die Ehrenrunden drehen lassen, diese Schüler auch zu einem Abschluss bringen. Im Gegenteil: Erfolgreich sind genau jene Modelle, bei denen Schüler mit unterschiedlicher Leistungsstärke lange gemeinsam unterrichtet werden.
"In Skandinavien käme kein Mensch auf die Idee, Schüler dieselbe Klasse mehrmals besuchen zu lassen", sagt der OECD-Bildungsexperte und Pisa-Forscher Andreas Schleicher, "dort arbeiten Lehrer konstruktiv mit ihren Schülern - und reichen sie nicht an den nächsten Kollegen weiter, wenn sie schlecht sind. Damit werden Schüler bestraft, aber nicht besser."
Sitzenbleiber haben schließlich meist nicht in allen, sondern nur in einigen Fächern Lernrückstände. Wiederholen müssen sie aber alle, und das auch noch in einer unbekannten Umgebung, in der sie als "Hängenbleiber" gelten und häufig nicht als gleichwertige Mitschüler behandelt werden. "Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, dass Schüler in dieser Situation plötzlich bessere Leistungen vollbringen", sagt auch der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck.
Bundesweit bleiben jährlich etwa 200.000 Schüler sitzen. Statistisch muss damit jeder vierte Schüler in Deutschland während seiner Schullaufbahn eine Klasse wiederholen. Außer dass es pädagogisch zweifelhaft ist, wird die Ehrenrunde wegen des Zeitverlusts und des längeren Verbleibs in der Schule auch noch teuer: Nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) kostet allein das Sitzenbleiben an den Hauptschulen die Steuerzahler bundesweit jährlich rund 239 Millionen Euro. Dort ist es jeder Vierte, der während seiner Schulzeit einmal eine Klasse wiederholen muss. Dass den Schülern das Geld, das in die Zwangsverlängerung der Schulzeit fließt, wenig bringt, argumentiert auch das IW: "Es findet aber weder eine vorbeugende Förderung für potenzielle Sitzenbleiber statt, noch eine spezielle Förderung für die Kinder, die tatsächlich ein Jahr wiederholen müssen", heißt es in der Studie.
Dass es auch anders geht, beweisen Waldorf- und andere reformpädagogische Schulen seit vielen Jahren. Doch auch an staatlichen Schulen tut sich etwas. An der Berliner Werner-Stephan-Hauptschule in Berlin-Tempelhof hat man vor ein paar Jahren das Instrument der "Nachversetzung" entworfen. Wer eigentlich nicht versetzt werden würde, bekommt in der höheren Klasse zunächst einen "Gaststatus". "Zu gegebenem Anlass", also wenn sich die Anzeichen mehren, dass seine Leistungen besser geworden sind, entscheidet dann die Klassenkonferenz darüber, ob der Schüler oder die Schülerin "nachversetzt" werden kann.
Für den Schulleiter Siegfried Arnz ist die Nachversetzung ein Weg, um die katastrophal hohen Abbrecherquoten zu drücken. "Es gibt Schüler, die werden jedes Jahr aufs Neue nicht versetzt", sagt Arnz, "was sollen die denn machen, wenn sie zum dritten Mal in der achten Klasse sitzen?" Nach Angaben des Schulleiters schafft mindestens jeder Zweite auf diese Weise doch noch den Übergang in die höhere Klasse sowie später einen Schulabschluss. "Schulischer Erfolg ist häufig auch eine Frage der Motivation", sagt Arnz, "und gerade Hauptschüler haben es meist schon in der Grundschule jahrelang schwer gehabt. Wenn die aber plötzlich sehen, dass das Ende in Sicht ist, fangen viele plötzlich an zu lernen wie nie zuvor." Einen ähnlichen Weg geht auch die Kölner Martin-Luther-Hauptschule. Dort hat man das Sitzen bleiben für die Klassen sechs bis acht abgeschafft. Wer früher wiederholen musste, erhält nun in Förderkursen zusätzlichen Unterricht. Ermöglicht wurde das durch das nord-rhein-westfälische Projekt "Selbstständige Schule". 278 Schulen dürfen seit einem Jahr in eigener Regie Refomen einführen, die sie für sinnvoll erachten.
Doch auch auf Landesebene tut sich vereinzelt etwas: In Berlin wurde in dem neuen Schulgesetz verankert, dass jede Schule für alle gefährdeten Schüler rechtzeitig vor den Zeugnissen "Bildungspläne" aufstellen muss. In diesen wird festgehalten, mit Hilfe welcher Maßnahmen jeder einzelne Schüler doch noch eine Versetzung schaffen könnte. Das heißt: Bevor ein Kind nach unten durchgereicht werden kann, muss zumindest eine Klassenkonferenz abgehalten und mit Eltern wie Schülern gesprochen worden sein. An einigen Schulen hat man das Gesetz aber auch zum Anlass genommen, sich kreativere Instrumente wie individuelle Förderpläne, Lernverträge zwischen Schülern und Schule oder Crashkurse anzubieten.
Auch in Bayern, das bisher eher als rigide im Umgang mit Noten galt, wird mit der Einführung des achtjährigen Gymnasiums die Versetzungsordnung gelockert. In Schleswig-Holstein will man mittelfristig noch einen Schritt weiter gehen. Dort beschloss der Landesparteitag der regierenden SPD, nicht nur das Sitzen bleiben abzuschaffen, sondern auch die Noten. Und selbst am dreigliedrigen Schulsystem will man im hohen Norden rütteln: Eine zehnjährige Grundschule soll die frühe Aufteilung auf Gymnasium-, Real- und Hauptschule beenden. Schleswig-Holsteins Schüler würde das Abschaffen der Ehrenrunde besonders freuen. Zurzeit verzeichnet man dort die bundesweit höchste Quote an Wiederholern. Fast jeden Dritten trifft es dort. Jeannette Goddar