Der Kreml und sein absoluter Anspruch an Macht
Russland ist der Kreml, und der Kreml ist Russland. In keinem anderen Land Europas ist die gesamte Macht auf so engem Raum konzentriert worden wie im Zarenreich. Und so abgeschottet von der übrigen Gesellschaft: Unnahbar und abweisend erheben sich seine roten Mauern in Moskaus Stadtmitte. Kein Neugieriger soll sehen, was im Inneren der Trutzburg vor sich geht. Das gilt bis heute: Wer als Tourist den Kreml besichtigen will, muss auf genau vorgezeichneten Wegen bleiben. Beim kleinsten Schritt zur Seite wird er sofort von Milizionären zurückgepfiffen.
Einen Einblick in die Geschichte des 850 Jahre alten Machtzentrums gewährt eine große Ausstellung, "Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht", die bis Mitte September im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wird. Im Untertitel heißt die Schau "Gottesruhm und Zarenpracht". Damit sind ihre beiden Pole präzise benannt: Das Erste hatte Letzterem zu dienen. Der Bau von Kirchen und Klöstern im Kreml, ihr Sammeln zahlreicher Reliquien und ihre verschwenderische Ausstattung mit Kunstschätzen verfolgte nur einen Zweck: Den absoluten Machtanspruch des Alleinherrschers zu begründen. Gezeigt werden rund 260 Werke, unter anderem Schmuck, Kleidung, Rüstungen, Waffen, Bücher und historische Karten.
Etwa 100 der erlesenen Exponate haben Moskau noch nie verlassen und wurden allein aus Anlass der Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003/4 an die Bundesrepublik ausgeliehen. Schon die historischen Stadtpläne am Eingang verdeutlichen, dass der Kreml stets den Mittelpunkt der Hauptstadt bildete. Sie wurde in konzentrischen Kreisen um ihn herum angelegt; alle Achsen führen auf ihn zu. Ab dem 15. Jahrhundert heuerten die Zaren italienische Baumeister an. Sie errichteten Paläste und Kathedralen, die mit ihren goldenen Kuppeln dem Kreml seine berühmte Silhouette verliehen.
Bis Ende des 17. Jahrhunderts arbeiteten Hunderte von Malern und Goldschmieden in den Werkstätten des Kremls. Sie belieferten den Monarchen und den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, der hier ebenfalls residierte, mit einzigartigen Kleinodien. Präsentiert werden kostbare lithurgische Geräte, ausgeführt in aufwändiger Niello-Technik: Die geschwärzte Gravur hebt sich fein ziseliert vom massiven Goldgrund ab. Von der Hof- und Kirchenkunst, die zur gleichen Zeit in Westeuropa entstand, unterschieden sich diese Werke aber radikal in ihren Produktionsbedingungen, wie der vorzügliche Katalog dokumentiert. Die Künstler, die sie schufen, waren an den Kreml gebunden und durften ihre Auftraggeber nicht wechseln. Unabhängige Kunstzentren oder -schulen mit eigenem Gestaltungsspielraum gab es nicht: Das vorgegebene Bildprogramm war absolut verbindlich. In diesen Gedankenkosmos der russischen Orthodoxie wird der Besucher ebenfalls eingeführt: Jeder Mensch hatte seinen festgelegten Platz in einer unverrückbaren Hierarchie. Die räumliche Einheit von geistlicher und weltlicher Macht endete erst 1712, als Peter der Große die Hauptstadt nach Sankt Petersburg verlegte.
Danach kehrten die Zaren nur noch zur Krönung in den Kreml zurück. Der Pomp dieses Rituals wird ebenfalls ausführlich dargestellt: Zuvor wurde die Anlage monatelang renoviert und allein für diesen Anlass der gesamte Hof komplett neu ausgestattet. Denn im Bewusstsein der Russen blieb der Kreml das Herz des Landes. Das belegt etwa ein mit Juwelen geschmücktes Osterei, das die Firma Fabergé in Petersburg für den letzten Zaren Nikolaus II. herstellte, der solche Objekte sammelte: Es ist auf ein Modell des Gebäudeensembles montiert und enthält eine Spieldose, die ein Kirchenlied wiedergibt. Dieses Prestige des Kremls nutzten die Bolschewiki aus, als sie 1918 die Hauptstadt zurück nach Moskau verlegten, um ihrer Macht mehr Legitimität zu verleihen.
Natürlich sind die mit Edelsteinen besetzten Reichs-insignien und reich bestickten Gewänder vor allem ein Augenschmaus: So viele prachtvolle Unikate wie in dieser Ausstellung sieht man selten. Doch sie vermitteln auch eine zeitlose Wahrheit über Russland. Wenn Präsident Wladimir Putin an Nationalfeiertagen erst eine Militärparade abnimmt und dann einer Messe im Kreml beiwohnt, obwohl ihm dies die Verfassung wegen des Prinzips der religiösen Neutralität des Staates eigentlich verbietet, knüpft er nahtlos an zaristische Traditionen an. Oliver Heilwagen
Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht:
bis 13. September, Katalog 29 Euro.