Ein Gespräch mit Gerhard Simon über die Proteste in der Ukraine und ausländische Interessen
Das Parlament: Was sind die Gründe für die politische Krise in der Ukraine?
Gerhard Simon: Von Stalin stammt der Ausspruch, es kommt nicht darauf an, wie gewählt wird, sondern wie gezählt wird. Das Prinzip funktionierte nicht nur in Stalins Sowjetunion, sondern bislang auch in der postkommunistischen Ukraine und besonders erfolgreich in Belarus. Aber auf einmal sind die Bürger der Ukraine nicht mehr bereit hinzunehmen, dass Ihre Stimme am Wahltag nichts gelten soll, dass ihre politische Willensäußerung in das Gegenteil verkehrt wird: Sie haben mehrheitlich für den Machtwechsel, das heißt für Juschtschenko gestimmt, statt dessen wird Janukowitsch, der Fortsetzer des Regimes Kutschma, zum Wahlsieger erklärt. Natürlich haben die massenhaften und plumpen, sogar offenen Wahlfälschungen den Protest der Millionen ausgelöst. Aber dahinter steht mehr: Zwar hat Kutschma ein autoritäres Präsi-dialregime errichtet, aber es ist ihm zu keiner Zeit gelungen - anders als Putin in Russland - die Opposition völlig auszuschalten. Es hat im Parlament, in einigen Medien und in den westlichen und zentralen Regionen des Landes stets eine Opposition gegeben. Sie hat sogar eine relative Mehrheit bei den Parlamentswahlen 2002 errungen, um die sie dann durch Manipulation und Korruption betrugen wurde. Gerade diese Erfahrung erklärt die Härte und Radikalität heute: Die Opposition will nicht noch einmal ausgetrickst werden. Etwas anderes kommt hinzu: Es gibt in allen Schichten der Bevölkerung eine weit verbreitete Stimmung, dass das Land von kriminellen Elementen regiert wird, dass Wirtschaftswachstum nur wenigen zugute kommt und dass es so nicht weitergehen kann. Die Ukrainer sehen sich als das ärmste Land Europas - tatsächlich beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nur etwa ein Drittel des russischen -, dessen natürlicher Reichtum von Oligarchen-Klans, die auch die politische Macht in den Händen halten, ausgebeutet wird. Dennoch: Die jetzige friedliche Protestbewegung der Bürger kann nur begrenzt "erklärt" werden; da ist viel Spontanes. Niemand hat die Kraft, den Optimismus, den Durchhaltewillen dieser Massenmobilisierung vorausgesehen. Jedenfalls lehren uns die Ukrainer, was die vielbeschworene europäische Wertegemeinschaft bedeutet.
Das Parlament: Oppositionsführer Viktor Juschtschenko war aber selbst ein Glied des "Systems Kutschma", er war unter ihm Ministerpräsident. Wie glaubwürdig ist er als Demokrat?
Gerhard Simon: Zwei Dinge gehörten zu den Voraussetzungen für den jetzigen Erfolg der Opposition: dass sie einen klar sichtbaren Führer hatte und dass sie nicht nur von unten, sondern zugleich von oben kam. Juschtschenko hat lange gezögert, diese Rolle zu übernehmen. Er ist von seinem Temperament her eher ein Gemäßigter, der sich anfangs weigerte, gegen Kutschma anzutreten, unter dem er in die höchsten Ämter aufgestiegen ist. Die Verknöcherung des alten Regimes, die Intransparenz von Politik und Wirtschaft, die zunehmende Kriminalisierung haben Juschtschenko die Rolle als Oppositionsführer aufgedrängt. In einem Land ohne demokratische Traditionen, ohne ein funktionierendes Institutionengefüge hat eine Opposition ausschließlich von unten keine Chance. Nur wenn die alte regierende Elite sich spaltet und ein Teil übertritt, kann es zu einem Machtwechsel kommen. In ähnlicher Weise wurde das kommunistische Regime von desillusionierten Kommunisten gestürzt.
Das Parlament: Einige Personen aus der Umgebung von Juschtschenko sind Oligarchen, gehören zur Finanzelite. Werden sie eine demokratische Ukraine aufbauen?
Gerhard Simon: Es gibt in der Ukraine keine lupenreine alternative Elite, deren demokratische und moralische Reputation unangreifbar wäre. Aber es gibt die Bereitschaft zum Wandel und die wachsende Überzeugung, dass nur durch den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen die Zukunft für das Land gewonnen werden kann. Sonst würde die Ukraine auf den Weg von Belarus abgleiten, das heißt eine Diktatur unter dem Schutz Moskaus. Eine andere Gefahr ist nicht von der Hand zuweisen: Die Reihen der Macht wanken, und immer mehr Amtsträger gehen zur Opposition über. Die "Wendehälse" könnten nach dem Machtwechsel zu einer erheblichen Belastung für eine Regierung unter Juschtschenko werden.
Das Parlament: Die Opposition stellte Präsident Kutschma ein Ultimatum und drohte ihm mit der Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit. Im Osten des Landes wird von der "Autonomisierung" und Abgrenzung von Kiew gesprochen. Haben wir es in der Ukraine mit einer Revolution zu tun?
Gerhard Simon: Teile der Verfassung sind de facto außer Kraft gesetzt. Die Blockade von Regierungsgebäuden oder ein Beschluss zur Abhaltung eines Referendums über Autonomie in einzelnen Regionen widersprechen der Verfassung. Insofern findet in der Ukraine eine Revolution statt. Es gehört zur Definition von Revolution, dass sie das bestehende Machtgefüge und die geltende Verfassung teilweise aufhebt, weil ein Machtwechsel innerhalb des bestehenden Rahmens nicht möglich ist. Andererseits funktionieren zentrale Elemente der Verfassung im wesentlichen: das Parlament tagt, der Präsident amtiert uneingeschränkt, das Oberste Gericht hält Sitzungen ab, um über die Wahlanfechtungsklage der Opposition zu entscheiden. Vor allem aber ist es bisher nicht zu Gewaltanwendung gekommen, und damit ist ein zentraler Grundsatz jeder Verfassungsordnung gewahrt. Bei früheren Revolutionen in Europa verloren Könige und Zaren ihr Leben. Jetzt ist eine Revolution ausgebrochen, weil Bürger frei und ungehindert wählen wollen und das mit friedlichen Mitteln und Nötigung der Staatsorgane durchsetzen. Vielleicht gibt es doch so etwas wie Fortschritt in der Geschichte.
Das Parlament: Könnte es zum Bürgerkrieg kommen?
Gerhard Simon: Ich schließe das aus. Seit zwei Wochen demonstrieren Hunderttausende in vielen Städten, oft begegnen sich die Demonstranten beider Lager in der gleichen Straße. Man geht mit Sprechchören aufeinander los, selten kommt es zu Rangeleien. Am 29. November wurde aus Luhansk im Osten der Angriff von Schlägern auf eine kleine Gruppe von Juschtschenko-Demonstranten gemeldet, es gab Verletzte. Aber mit Bürgerkrieg hat all dies gottlob nichts zu tun. Die Ukrainer sind ein ausgesprochen friedliches Volk und unterscheiden sich darin etwa von den Völkern des Kaukasus. Außerdem: die Armee hat glaubwürdig ihre Entschlossenheit erklärt, nicht in den Konflikt einzugreifen, und große Teile der Sicherheitskräfte einschließlich mehrerer Generale haben sich öffentlich auf die Seite der Opposition gestellt. Wer sollte also gegen wen Bürgerkrieg führen?
Das Parlament: Ist die Spaltung des Landes zu überwinden? Wäre eine Föderalisierung der Ukraine die Lösung?
Gerhard Simon: Die Verfassung von 1996 definiert die Ukraine dezidiert als Einheitsstaat. Es herrschte nach dem Fall des Kommunismus weitgehend Konsens, dass dies notwendig sei, um die in der Tat starken regionalen Eigenständigkeiten nicht durch eine Föderalisierung außer Kontrolle geraten zu lassen. Das Beispiel Russland mit seiner wilden Föderalisierung Anfang der 90er-Jahre wirkte zusätzlich abschreckend. Kutschma ist seit zehn Jahren Präsident, und die Bilanz seiner Ära ist wenig rühmlich. Aber es ist sein Verdienst, dass die Ukraine eben nicht auseinandergebrochen ist, wie 1994 viele erwartet hatten. Er hat die separatistischen Bestrebungen auf der Krim Anfang der 90er-Jahre durch eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche unter Kontrolle gebracht. Die territoriale Integrität der Ukraine gegen Bedrohungen von innen und außen verteidigt zu haben, ist das politische Lebenswerk von Kutschma. Deshalb ging er auf Distanz zu seinem Wunschnachfolger Janukowitsch, als der sich seit dem 27. November den "Autonomisten" im Osten anschloss. Der Kreml schickte den Moskauer Bürgermeister Luschkow, um die Autonomisten in ihrem Anti-Kiew-Kurs zu unterstützen. Das ließ in Kiew bei allen, keineswegs nur bei der Opposition, die Alarmglocken schrillen, denn Luschkow war schon Anfang der 90er-Jahre Reisender in Sachen Krimseparatismus gewesen. Es ist eine kaum zu überbietende Instinktlosigkeit russischer Politik, ausgerechnet Luschkow aufzubieten, der für alle Lager in der Ukraine die Symbolfigur für die Infragestellung der territorialen Unversehrtheit seitens Russlands ist. Am Ende dürfte diese Politik zur Festigung der ukrainischen Staatlichkeit beitragen, wie zu Beginn der 90er-Jahre.
Das Parlament: Wird der Machtwechsel die Ukraine aus der wirtschaftlichen Krise herausführen?
Gerhard Simon: Juschtschenko hat als Ministerpräsident 2000/2001 eine reformorientierte Wirtschaftspolitik betrieben, den Oligarchen manche Privilegien verweigert, das Staatsbudget in Ordnung gebracht und erstmals seit dem Ende des Kommunismus Wachstum initiiert, das bis heute anhält. Man darf davon ausgehen, dass unter seiner Präsidentschaft Maßnahmen gegen die Schattenwirtschaft und mangelnde Transparenz durchgesetzt werden. Allerdings stellen die ungelösten sozialen Fragen und die Armut eine schwere Belastung dar. Juschtschenko hat im Wahlkampf große und populistische Versprechungen gemacht. Sie werden ihn einholen.
Das Parlament: Die Ukraine ist fast doppelt so groß wie Deutschland und hat 48 Millionen Einwohner. Wird die EU bereit sein, das Land zu sanieren?
Gerhard Simon: Niemand wird die Ukraine sanieren, wenn nicht die Ukrainer selbst. Dennoch kann das Land darauf rechnen, dass unter einem Präsidenten Juschtschenko sowohl die EU als auch die USA zu Hilfe bereit sein werden. Voraussetzung sind allerdings überzeugende Anstrengungen im Kampf gegen die Korruption, Gewährleistung von Konkurrenz und Markt sowie geordnete Staatsfinanzen.
Das Parlament: Viele Diktatoren "schmücken" sich mit Scheinwahlen und geben sich als demokratisch legitimierte Präsidenten aus. Die EU und die USA sind normalerweise zurückhaltend in ihrer Beurteilung. Wieso ist der Westen hinsichtlich der Ukraine so kritisch?
Gerhard Simon: Dies ist ausschließlich den Menschen in der Ukraine zu verdanken. Weil sie ihren Protest millionenfach zum Ausdruck brachten, haben sie den Westen zum Handeln gezwungen. Denn es geht um eines der vornehmsten Grundrechte der Demokratie: die Achtung vor dem Wähler.
Das Parlament: Russlands Parlamentspräsident Gryslow sprach von der Spaltung der Ukraine oder von Blutvergießen. Ist das eine Drohung aus Moskau?
Gerhard Simon: Ich habe den Verdacht, dass solche Horrorszenarien künstlich geschaffen werden, um Öl ins Feuer zu gießen. Danach könnten diejenigen, die legitime Interessen in der Ukraine haben, ihre Hilfe und ihr Eingreifen rechtfertigen, das selbstverständlich nur den Zweck hätte, noch Schlimmeres zu verhüten. Wenn man den Ukrainern die Möglichkeit lässt, ihre Probleme selbst zu lösen, wird es weder zu einer Spaltung des Landes noch zu Blutvergießen kommen.
Das Parlament: Warum ist Präsident Putin so beunruhigt?
Gerhard Simon: Putin hat seit einem halben Jahr auf Janukowitsch als neuen Präsidenten der Ukraine gesetzt. In seinem verfrühten Glückwunschschreiben zu dessen "Wahl" hat er unzweideutig seine Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass nun die russisch-ukrainischen Beziehungen auf eine neue Ebene gehoben würden. Das heißt im Klartext, eine neue Stufe der wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Durchdringung der Ukraine durch seinen großen Nachbarn. Putins Ziel ist nicht die "Liquidierung" der ukrainischen Unabhängigkeit, sondern die Hegemonie über den kleineren Nachbarn, die nach Form und Inhalt unterschiedliche Gestalt annehmen kann. Die Zurückweisung der Ukraine seitens der EU hat der russischen Politik in den vergangenen Jahren einen weiten Spielraum eröffnet. Die von Putin erhoffte "neue Ebene" in den Beziehungen wird mit einem Präsidenten Juschtschenko kaum zu erreichen sein, der schon aufgrund seiner demokratischen Legitimation unabhängiger sein wird als ein durch russische Polittechnologie ins Amt gekommener Präsident in Kiew. Das heißt keineswegs, dass Juschtschenko eine antirussische Politik betreiben wird. Jeder ukrainische Präsident ist auf gute Nachbarschaft mit Russland angewiesen. Aber Juschtschenko dürfte ukrainische nationale Interessen in größerer Distanz zu Moskau definieren als die heutige Führung.
Das Parlament: Befürchtet Moskau, die Ukraine könnte unter einem anderen Präsidenten NATO-Mitglied werden?
Gerhard Simon: Bis vor wenigen Monaten galt die Mitgliedschaft in der NATO auch unter Kutschma offiziell als Ziel ukrainischer Politik. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass ein frei gewählter Präsident dieses Ziel wieder aufnimmt. Die Zusammenarbeit mit der NATO hat in den vergangenen Jahren auch unter der jetzigen Regierung eine große Dichte erreicht - anders als mit der EU. Kürzlich wurde erstmals ein ukrainischer Absolvent der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg zum General ernannt. Die Armee hält sich in der Krise strikt im Hintergrund, das ist wohl auch die Folge eines neuen zivilen Geistes, der durch die Zusammenarbeit mit der NATO gefördert worden ist.
Das Parlament: Ist die "Schlacht um Kiew" eine Wiederkehr des Ost- West- Konfliktes?
Gerhard Simon: Nein. Russland ist nicht die Sowjetunion und kein Partner auf gleicher Augenhöhe mit den USA. Einfluss auf die Ukraine ist zwar wichtig für Russland, und der Fall Janukowitsch ist eine herbe Niederlage für die russische Politik. Aber Russland kann und wird nicht das in den vergangenen Jahren erreichte Niveau der Zusammenarbeit und Partnerschaft mit dem Westen aufs Spiel setzen, nur um seinen Wunschkandidaten als Präsidenten in der Ukraine durchzusetzen. Putin hat erkannt, dass Russland von der Kooperation mit dem Westen nur gewinnen und bei einer Konfrontation nur verlieren kann.
Das Gespräch führte Aschot Manutscharjan.