Ottfried Höffe formuliert eine politische Ethik der Globalisierung
In einem ersten Abschnitt werden Arbeit, das Ethos des Unternehmers und soziale Gerechtigkeit behandelt. Ein weiteres Unterkapitel fragt nach einer gerechten Entlohnung wirtschaftlichen Handelns. Der Abschnitt "Staatsbürger" behandelt Fragen der Bürgerbeteiligung in politischen Gesellschaften, der Toleranz, der Ehre, der Werte für ein demokratisches Bildungswesen sowie Fragen des Bürger- und Gemeinsinns.
Im dritten Abschnitt "Weltbürger" werden Probleme der internationalen Ordnung, des Zusammenlebens der verschiedenen Zivilisationen, der Rechtfertigung von Kriegen, der Entwicklungspolitik und der Umweltpolitik zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht. Am Ende plädiert Höffe für die Geisteswissenschaften als einem weltumfassenden Bemühen, die Welt der Menschen zu verstehen und sie zu einem friedlichen Zusammenleben zu befähigen.
Wie schon vor ihm Hans Jonas, den er eigenartigerweise nicht erwähnt, sieht Höffe ein ethisches Grundproblem der Moderne in der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Was beide vornehmlich für die Umweltpolitik betonen, ist die Verantwortlichkeit der heute Lebenden für die Erhaltung der Lebensbedingungen auf dieser Erde. Höffe weitet diese Dimension der Ethik - die Suche nach dem rechten Maß der Ressourcen-Nutzung, die nicht die Lebenschancen künftiger Generationen ruiniert - auf andere Bereiche aus. Mehrmals betont er, dass Bildungsaufgaben und Investitionen gegenüber anderen öffentlichen Ausgaben Vorrang haben müssen: "Dass der konsumptive Anteil (am Bruttoinlandsprodukt) mit den immer noch wachsenden Staatsschulden auf dem Wege ist, jegliche Investition zu erdrosseln, ist eine krasse Ungerechtigkeit gegen künftige Generationen."
Diese Betonung der zu recht geforderten Rücksicht auf die Nachgeborenen steht in eigenartigem Gegensatz zum Glauben des Autors an die Leistungsfähigkeit des "Ideals der Demokratie", die ja doch tatsächlich eine Veranstaltung der stimmberechtigten Vollbürger zum eigenen Nutzen ist. Das demokratische Element freier Gesellschaften will Höffe durch plebiszitäre Elemente noch verstärken. Die repräsentative Demokratie genüge nicht; eine Verknüpfung mit der direkten Demokratie helfe "dem Ideal der Demokratie, einer realen Herrschaft des Volkes, näher zu kommen".
Ob diese Mechanismen tatsächlich mehr Rücksicht auf künftige Generationen bewirken, diskutiert Höffe nicht. Wenn er meint, Abgeordnete hätten "kein Recht, gegen die Überzeugungen des von ihnen vertretenen Volkes zu entscheiden", gibt es allerdings gar keinen Gegensatz zwischen repräsentativer und direkter oder plebiszitärer Demokratie. Dies ist natürlich falsch; Adenauer war nicht im Unrecht, als er in den 50er-Jahren gegen die Meinungsmehrheit der Deutschen die Aufstellung militärischer Verbände durchsetzte; und Schröder muss, zusammen mit Merkel und Stoiber, Sozialausgaben auch gegen Mehrheitsmeinungen kürzen, wenn er erhöhte Bildungsausgaben finanzierbar machen will.
Höffes Bemerkungen über Parteiendemokratie und Sachkompetenz zeugen insgesamt von einer gewissen Naivität, Modischkeit oder Unkenntnis. Beim Abwägen, ob beim Normalbürger oder beim Berufspolitiker mehr Sachkompetenz vorherrsche, erklärt er: "Nun bringt aber eine typische Parteikarriere nicht mit großer Wahrscheinlichkeit die beim schlichten Bürger vermisste Fachkompetenz zustande." Das ist richtig und doch irrig. Nicht die Parteikarriere, sondern die Tätigkeit im Parlament berechtigt Abgeordnete in den westlichen Demokratien zu Sachentscheidungen; und es gibt wohl keine Untersuchung westlicher Parlamente, die nicht feststellte, dass die schon nach einer kurzen Parlamentskarriere erworbenen Sachkenntnisse der Volksvertreter außerordentlich groß sind.
Die beim Schreiben über freiheitliche Demokratien beobachtete Naivität Höffes findet der Leser auch in den Bemerkungen und Beurteilungen der internationalen Ordnung. Ein eigenartiges Konglomerat von Wünschenswertem und einfach Postuliertem mischt sich mit vernünftig kritischen Urteilen beispielsweise über den US-amerikanischen "Krieg gegen den Terrorismus", der kein "Krieg" sei, oder über das sichtbar werdende Hegemonialstreben der Nordamerikaner.
Einerseits kritisiert Höffe sehr kenntnisreich den euro-atlantischen Zentrismus eines Teiles der Geisteswissenschaftler; andererseits sieht der Tübinger Philosophie-Professor nicht, dass die Trennung zwischen dem religiösen Denken und dem weltlich-politischen Feld menschlichen Handelns eine Besonderheit eben dieser europäisch-atlantischen Zivilisation ist. Da nützt es wenig, wenn er die Ablösung des Rechts vom Religiösen als "normative Modernisierung" bezeichnet und es von der Säkularisierung unterscheidet.
Diese Ablösung ist in der Tat in unserer Zivilisation ein Ergebnis der geistigen Bewegung der Säkularisierung. Andere Zivilisationen - wie der auch von Höffe genannte Islam - sind diesen Weg nicht gegangen. Die in unserem Kulturkreis lebenden Mohammedaner werden auch kaum, wie Höffe meint, ihre Ursprungsländer im Sinne der Säkularisierung missionieren. Der Glaube, durch "interkulturelle Diskurse" könnten die vorherrschenden Existenzinterpretationen und Lebensentwürfe ganzer Kulturen verändert werden, ist unrealistisch.
Diese letzte kritische Bemerkung führt zu einem weiteren Einwand gegen den liebenswerten Optimismus des Autors: Es ist unrealistisch, Politik und international Ordnung zentral auf dem guten Willen der Beteiligten aufbauen zu wollen oder diese auch nur nach diesem zu beurteilen. Diskurse beseitigen nicht die Macht- und Habgier der Menschen; Demokratisierung ist kein Allheilmittel gegen die Übel dieser Welt, und außerdem: Unsere liberal-freiheitliche Ordnung basiert neben dem Recht leider auch auf dem Gedanken, dass der besser Organisierte und Effizientere sich auch durchsetzen soll.
Weil dies so ist, ist die radikale und charmante Forderung Höffes, die er gegen Ende seines Buches formuliert, eine Träumerei: "In den Fallstricken des Völkerrechts nicht verfangen, nimmt sich der Philosoph die Freiheit zu einer Vermutung, auch wenn sie auf eine radikale Forderung hinausläuft. Deren Legitimationsgrundlage ist aber allgemein anerkannt: Nach dem Lebensrecht der Ureinwohner einerseits, nach dem Selbstbestimmungsrecht andererseits wäre es gerecht, wenn man die Amazonaswälder... von den in Frage stehenden Staaten abtrennt, sie zu einem eigenen Gemeinwesen erklärt und dieses... als territorial sakrosankt behandelt. Nun weiß man ,,dass die Ureinwohner, sobald sie einmal mit der ‚westlichen Kultur' in Berührung kommen, sich deren Sog nicht entziehen können. Da deshalb zumindest ihre kulturelle Identität zerstört wird, überlasse man das Land ohne jedes Zugangsrecht für andere vollständig den hier lebenden Stämmen."
Ich fürchte, mit diesen Bemerkungen wird die Überschreitung der Grenzen politischer Ethik hin zum Unrealistischen unübersehbar.
Ottfried Höffe
Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung.
Verlag C.H.Beck, München 2004; 309 S., 22,90 Euro