Der neue Jahresbericht von amnesty international
Berichte von amnesty international (ai) sind nicht sehr erbaulich und dürfen es auch nicht sein. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Respektloses Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte ist nicht nur das Gütezeichen von amnesty international; ohne diese politische Unabhängigkeit würde die Menschenrechtsorganisation rasch ihre politische Bedeutung und ihre Reputation als Anwältin der Opfer verlieren.
Hier werden die Menschenrechtsverletzungen in 149 Länderberichten zusammengestellt, gruppiert nach den Regionen Afrika, Amerika, Asien und Pazifik, Europa und Zentralasien, Naher Osten und Nordafrika. Diese Großkapitel werden jeweils eingeleitet durch eine instruktive Überblicksdarstellung.
Benannt - und damit angeprangert - wird auch das Verhalten der USA und europäischer Staaten bei internationalen Konflikten und Kriegen sowie Menschenrechtsverletzungen in demokratischen Staaten, die sich als Rechtsstaaten verstehen. Der Bundesrepublik Deutschland werden polizeiliche Misshandlungen sowie übermäßiger Einsatz von Gewalt mit Todesfolge etwa bei Abschiebungen zur Last gelegt. Erheblich umfangreichere Menschenrechtsverletzungen werden den USA vorgeworfen. Irene Khan, die Generalsekretärin von ai, stellt fest:
"Die USA als unangefochtene politische, militärische und wirtschaftliche Supermacht setzen mit ihrem Handeln Orientierungsmarken für die Regierungen der übrigen Welt. Wenn sich der mächtigste Staat unseres Erdballs über Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte derart unverhohlen hinwegsetzt, wie es die USA momentan tun, geht davon die verheerende Botschaft an die Machthaber anderer Länder aus, ebenfalls in aller Dreistigkeit straffrei agieren zu können. Von Israel bis Usbekistan und von Ägypten bis Nepal haben Regierungen deutlich gemacht, dass sie im Namen der nationalen Sicherheit und im Kampf gegen den ,Terrorismus' die Menschenrechte und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts nicht mehr als schützenswertes Gut respektieren."
Angeprangert werden aber auch halbherzige Maßnahmen des Sicherheitsrats der UNO etwa im sudanesischen Darfur, wo auch Ölinteressen Chinas und die Rüstungsindustrie der Russischen Föderation berührt sind. Nüchtern werden Folterpraktiken in diktatorischen wie rechtsstaatlichen Staaten aufgelistet; weiter heißt es: "Der Respekt vor den Menschenrechten ist das wirksamste Mittel gegen den ,Terrorismus'."
Besondere Aufmerksamkeit findet in den Länderberichten die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen jeden Alters, die insbesondere in der Demokratischen Republik Kongo unvorstellbare Ausmaße angenommen hat. Täter wären überall anzutreffen, in den Reihen der staatlichen Sicherheitskräfte ebenso wie in in regierungsnahen paramilitärischen Verbänden und Milizen, Blauhelmsoldaten nicht ausgenommen.
Erschreckend ist auch die Bilanz der registrierten Hinrichtungen: 97 Prozent aller Todesurteile fanden allein in vier Staaten statt: in China, dem Iran, den USA und in Vietnam. Die Berichte machen weiterhin deutlich, dass von der Gewalt zumal in armen und ärmsten Ländern andere reiche Staaten profitieren, denn manche Gewalthandlungen werden erst durch Waffenlieferungen etwa aus Europa ermöglicht.
Als womöglich größte Bedrohung für die Menschenrechte und die globale Sicherheit gilt amnesty international die anhaltende Armut auf der Welt. Die Kluft zwischen Arm und Reich - sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb von Staaten - werde immer größer. Die Verwirklichung des Ideals, verkündet in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind, rücke in immer weitere Ferne.
Benannt werden schließlich auch Privatunternehmen, deren Rolle angesichts der Globalisierung immer bedeutender wird: Diese wehren sich nicht selten gegen international verbindliche Verhaltenkodizes.
Amnesty schließt sich nicht uneingeschränkt der Kritik an den Vereinten Nationen an, denn diese verfolge auch das Ziel, die Handlungskompetenz der UNO zu schwächen. Die nationalen Regierungen müssten erkennen, dass die Missachtung der Menschenrechte nur größere Instabilität zur Folge habe und keineswegs eine sichere Welt schaffe.
Im Anhang wird tabellarisch aufgelistet, welche Länder wichtige Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert haben. Der Jahresbericht sollte eine Pflichtlektüre nicht nur für politische Entscheidungsträger, Unterrichtende und Journalisten sein. Die neutrale Arbeit von amnesty international ist für die Schaffung einer friedlicheren und gerechteren Welt unverzichtbarer denn je.
amnesty international
Jahresbericht 2005
Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2005; 635 S.; 13,90 Euro