Das Auswanderermuseum in Bremerhaven macht Geschichte sinnlich erfahrbar
Zwanzig Jahre lang debattierte Bremerhaven darüber, wie sich für die Erinnerung an die alten Zeiten ein angemessener Ort schaffen ließe, der zudem Touristenscharen in die von Werften- und Fischereikrise gebeutelte Hafenstadt locken könnte. Fast hätte Hamburg die Bremerhavener überholt: mit einem eigenen Museum in nachgebauten Auswandererhallen. Doch im Endspurt siegten die Dauerläufer: Während Hamburgs "Ballinstadt" frühestens 2007 fertig wird, konnte Bremerhaven nun Einweihung feiern.
Das neue Gebäude ist kein einfallsloser Zweckbau, sondern beschäftigt sich in der Form mit dem Inhalt. Auf einem ovalen Betonsockel ruht ein Kasten aus Lärchenholz, seitlich ragen stilisierte Betonsegel auf. "Eine grandiose architektonische Inszenierung", lobte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) bei der Eröffnungsfeier am 8. August den Architekten Andreas Heller, der bereits die Neufassung der Wehrmachtsausstellung gestaltet hat. Das Museum steht in passender Umgebung - am Neuen Hafen, dort, wo seit dem 19. Jahrhundert die Emigranten abgefertigt wurden, bis 1928 die komfortablere Columbuskaje in Betrieb ging.
Schauen wir mal rein. An der Kasse erhalten die Besucher eine Chipkarte, mit der sie an verschiedenen "Hörstationen" Informationen per Kopfhörer abrufen können. Jeder bekommt nach dem Zufallsprinzip einen von 15 authentisch rekonstruierten Lebensläufen zugeteilt und kann an den Hörstationen den Werdegang "seines" Auswanderers verfolgen. Aber natürlich darf man auch in die Geschichten der anderen hineinhorchen und dabei die Vielfalt ihrer Motive ergründen: Juden flüchteten vor Pogromen im Zarenreich oder vor den Nazis, andere wollten Armut und Hungersnöten entkommen, viele wurden politisch drangsaliert, und mancher suchte einfach das Abenteuer.
Eine düstere, ausgetretene Treppe führt die Museumsbesucher in den eindrucksvollsten Raum der 3.500-Quadratmeter-Ausstellung: An einer nachgebauten Kaimauer warten Männer, Frauen und Kinder mit Koffern und Kisten auf den Zutritt zum Dampfer "Lahn". Hinter den lebensecht ausstaffierten Puppen erhebt sich die Fassade einer Backsteinhalle. Ängstlich bis erwartungsvoll schauen die Emigranten auf die acht Meter hohe Schiffswand, die sich leicht auf und ab bewegt. Das Wasser im angedeuteten Hafenbecken ist echt. Aus der Ferne erklingt manchmal eine Schiffssirene vom Band. "Die komplette Illusion", findet Museumsdirektorin Sabine Süß.
Über eine schwankende Gangway gelangt man auf die schiefe Ebene: In Teilen der oberen Museumsetage hat der Holzfußboden zwei Grad Schräglage - eine kaum erkennbare Abweichung, die aber den Gleichgewichtssinn irritiert und ein Gefühl wie bei leichtem Seegang erzeugt. So werden die Gäste gleich richtig eingestimmt auf die Besichtigung der einstigen Passagier-Unterkünfte aus drei Schiffsgenerationen.
Stickig ist die Luft im fensterlosen Massenlager eines Segelschiffs um 1850. Doppelstock-Holzregale dienen als Bettgestelle. Auf Strohmatten lagern ausgemergelte Gestalten, die kaum Platz haben. Irgendwo hustet ständig ein Besucher - ach nein, das Geräusch kommt von den Menschenpuppen auf den Betten. Im wahren Leben mussten die Auswanderer wochenlang in dieser Enge ausharren.
Schneller und bequemer wurde die Atlantiküberquerung, als sich die Dampfer durchsetzten. In nachempfundenen Kabinen von 1887 und 1929 gehörte immerhin fließendes Wasser zum Standard. Kleiner Gag für spielfreudige Museumsgäste: Wer am Wasserhahn dreht, aktiviert damit einen Bildschirm am Boden des Waschbeckens und kann sich Auswanderer bei der Morgentoilette anschauen.
Endlich im Land der Träume. Ein langer Gang, in dem ein pochendes Herz zu hören ist, führt zur US-Aufnahmestation Ellis Island, hier dargestellt durch begehbare Käfige. "Für viele war das eine schockierende Erfahrung", erzählt Direktorin Süß. Denn nach den Strapazen der Reise wurden die Europaflüchtlinge nun "auf Niere und Gewissen überprüft". Dazu gehörten nicht nur eine Gesundheitsuntersuchung, sondern auch intensive Schnellverhöre: "Sind Sie Polygamist?", "Sind Sie Anarchist?" Hunderttausende, die unpassend oder zu langsam antworteten, fielen durch - und mussten mittellos zurück in die alte Heimat.
Die Museumsbesucher können sich an einem Computer selber verhören lassen. Wer versagt, erhält unerbittlich den Bescheid: "Abgewiesen."
Weniger spektakulär wirken andere Ausstellungsräume. Zum Beispiel die "Galerie der sieben Millionen": In langen Regalen stecken Schubfächer mit Namen, Geburts- und Ausreisedaten - zwar nicht von allen sieben Millionen Bremerhaven-Passagieren, aber immerhin von 3.000. Da stößt man etwa auf Löb Strauß, der 1847 als 18-Jähriger mit seiner Familie in die USA emigrierte und dort als Levi Strauss die Jeans erfand und so den amerikanischen Traum schlechthin vorlebte. Andere dagegen scheiterten und erlebten Amerika als Land der geplatzten Hoffnungen.
Wenn die Sehnsucht nach der alten Heimat zu stark wurde, legte sich eine Familie eine spezielle Tischdecke auf und servierte deutschen Apfelkuchen. Diese "Heimwehdecke" gehört zu einer Sammlung von Erinnerungsstücken, gestiftet von Nachfahren. Deren Interesse ist enorm. Sie überließen dem Auswandererhaus nicht nur solche Devotionalien, sondern besuchen auch das Museum, um auf Ahnensuche zu gehen. Im "Forum Migration" können sie in Auswanderer-Datenbanken nach ihren Wurzeln suchen. Hier wird auch das Schicksal heutiger Flüchtlinge angesprochen. "Einwanderer erzählen" steht an einer Hörbar, und ein kleines Quiz stellt Fragen wie: "Welche Konvention der Vereinten Nationen befasst sich mit den Rechten der Flüchtlinge?" (Es ist das Genfer Abkommen von 1951.)
Billig war das Museum nicht: Land Bremen und Stadt Bremerhaven haben gemeinsam gut 20 Millionen Euro in den Neubau investiert und ihn dann an eine Privatfirma verpachtet, die das Haus ohne weitere Zuschüsse betreiben will. Schon mit 170.000 Besuchern pro Jahr soll sich die Einrichtung rechnen. Der Betrieb lief so gut an, dass diese Zahl locker erreicht werden dürfte.
Offenbar haben mehr Menschen einen persönlichen Bezug zu dem Thema, als man denkt - sogar die ersten Ehrengäste: Otto Schilys Großvater war ebenso Emigrant wie ein Bruder von Bundespräsident Horst Köhler.