Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei
In der vergangenen Woche kamen bei einer Generaldebatte im Straßburger Europaparlament noch einmal alle Argumente auf den Tisch. Die Konservativen warfen Ankara Ver tragsbruch vor. Sie spielten dabei auf die ungelösten Streitigkeiten in der Zypernfrage an. Zwar hatte Ankara Ende Juli endlich erklärt, das so genannte Ankara-Protokoll auf die zehn neuen Mitgliedsstaaten inklusive Zypern ausweiten zu wollen. Dabei geht es um Handelserleichterungen zwischen der Türkei und der EU. In einer Zusatzerklärung hatte die türkische Regierung aber deutlich gemacht, damit sei keine Anerkennung Zyperns verbunden. Zypriotische Schiffe würden auch künftig in türkischen Häfen abgewiesen und zypriotische Flugzeuge erhielten weiterhin keine Überflugrechte. Als Reaktion hatten die Botschafter der Mitgliedsstaaten Mitte September in Brüssel eine Erklärung formuliert, in der Ankara aufgefordert wird, zypriotische Waren nicht zu diskriminieren. Während des Verhandlungsprozesses müsse die Türkei die griechisch-zypriotische Republik anerkennen.
Von einem "Eiertanz der Erklärungen" sprach der Vorsitzende der konservativen Fraktion, der deutsche Abgeordnete Hans-Gert Pöttering, während der Debatte in Straßburg. "Wir sollten deutlich machen, dass die Türkei der EU beitreten möchte, nicht anders herum", forderte sein Parteifreund Elmar Brok, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses. Brok sagte, es sei nicht nachvollziehbar, dass über erwiesene Folterungen in der Türkei nicht diskutiert werde. Der nicht bewiesene Vorwurf, Kroatien decke einen Kriegsverbrecher, habe aber dazu geführt, dass der Beitrittsprozess mit diesem Land gestoppt worden sei.
Der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion, der deutsche Abgeordnete Martin Schulz, konterte: "Die Türkei wollen wir nicht, sie ist weit weg und islamisch. Kroatien aber ist nah bei uns und katholisch." Der liberale britische Abgeordnete Andrew Duff ergänzte: "Es ist erstaunlich, dass die Deutschen, die politisch und wirtschaftlich so viel von der europäischen Integration profitiert haben, der Türkei ein Gleiches verweigern wollen." An die britische Ratspräsidentschaft gerichtet fragte Duff, was sie dafür tue, damit die Handelsbeziehungen zu Nordzypern endlich normalisiert und die Versprechen eingehalten werden könnten.
Der grüne Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit nannte die Türkeiverhandlungen die erste echte Erweiterung der EU. Bei den voran gegangenen Beitrittsrunden habe es sich um die Wiedervereinigung des Kontinents gehandelt. Auf der Anti-Türkei-Welle surften viele, die damit nur ihre rassistische Ablehnung des Islam transportieren wollten. "Wir haben in der EU bereits mehr Muslime, als es Belgier in Europa gibt - ob es mir als Atheist nun gefällt oder nicht!", rief der grüne Fraktionssprecher den anderen Abgeordneten zu.
Laut einer Umfrage des jüngsten "Eurobarometers" sprechen sich gegenwärtig nur 35 Prozent der Europäer für eine Aufnahme der Türkei aus, während 52 Prozent gegen eine Europäische Union bis an die Grenzen des Irans sind.
Das politische Gezerre trägt zu dieser Unsicherheit sicher seinen Teil bei. Bis zum Wochenende hatten sich die EU-Botschafter nicht auf einen Verhandlungsrahmen einigen können. Dahinter steckten aber nicht nur die bekannten Vorbehalte Frankreichs, Griechenlands und Zyperns. Plötzlich meldete sich die österreichische Regierung mit neuen Bedenken. Sie forderte, einen Satz zu streichen, wonach "gemeinsames Ziel" der Beitritt sei und will stattdessen ein "alternatives Ziel" in den Verhandlungsrahmen aufgenommen haben. Diplomaten vermuten einen Zusammenhang mit den am Sonntag anstehenden Wahlen in der Steiermark und dem weiterhin auf Eis gelegten Beitrittsprozess mit Kroatien. Auch das Europaparlament in Straßburg sendete untererschiedliche Signale aus. Während die Abgeordneten in einer Resolution das Verhandlungsdatum 3. Oktober billigten, forderten sie gleichzeitig, dass die Türkei während der Verhandlungen den Völkermord an den Armeniern anerkennen müsse. Kenner der innenpolitischen Situation fürchten, dass dadurch die europafeindlichen Kräfte in der Türkei gestärkt werden könnten. Eine Mehrheit legte außerdem das Zollabkommen auf Eis - also genau das Instrument, mit dem die Türkei zur Anerkennung Zyperns genötigt werden soll.
Erweiterungsrunden gingen in der Europäischen Union selten ohne Gezerre vor sich. Längst vergessen ist, dass Irland, Großbritannien und Dänemark bereits 1961, drei Jahre nach Gründung der Union, einen Antrag stellten, in den Club aufgenommen zu werden. Nach vielem Hin und Her begannen drei Jahre später die Verhandlungen, 1973 war die erste EU-Erweiterung abgeschlossen.
Griechenland klopfte 1975 an die Tür und erhielt sechs Jahre später Einlass. Portugal blickt auf eine ähnlich unendliche Geschichte zurück, wie sie derzeit die Türkei durchlebt. Schon 1962 stellte das westlichste Land Europas einen Aufnahmeantrag, erst 16 Jahre später begannen die Verhandlungen. Und es dauerte weitere acht Jahre, bis das einstige Weltreich gemeinsam mit Spanien in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Dass es schnell gehen kann, wenn die Europäer wirklich wollen, zeigte die letzte Erweiterungsrunde. 1990 bewarben sich Zypern und Malta, in den Jahren darauf zehn weitere Länder in Osteuropa. Bis auf Bulgarien und Rumänien traten alle zum 1. Mai 2004 der Union bei.
Es ist diese Hypothek ständig erneuerter, nie eingelöster Versprechen, die auf den europäisch-türkischen Beziehungen lastet. Befürworter eines Beitritts führen sie zu allererst ins Feld. Erst dann werden geostrategi-sche Gründe genannt: Europa müsse ein Bollwerk in Richtung der asiatischen Krisenregionen errichten. Es sei zudem ein deutliches Signal an fanatische Islamisten, wenn es gelinge, ein islamisches Land unter das Dach europäischer abendländischer Werte zu holen.
Die Gegner eines Türkeibeitritts führen an, das Land gehöre weder kulturell noch geographisch zu Europa. Sie wollen das große Nachbarland im Südosten mit einer "privilegierten Partnerschaft" entschädigen - wenn auch nicht so recht klar ist, welche Vorteile die gegenüber der bestehenden Zollunion haben könnte. Ankara hat deutlich gemacht, dass es sich mit einer Mitgliedschaft zweiter Klasse nicht abspeisen lassen wird. Die türkische Regierung will alles oder nichts - und verschließt dabei die Augen vor der Tatsache, dass der abgesteckte Verhandlungsrahmen ohnehin einen Beitrittsprozess zweiter Klasse einleiten wird.
In der Vergangenheit bestanden die Verhandlungen im Wesentlichen darin, in allen Politikbereichen festzustellen, wie sich das Bewerberland umstrukturieren muss, um europäische Standards zu erreichen. Der Verhandlungsrahmen für die Türkei geht darüber weit hinaus. Im Fall einer ernsten und andauernden Verletzung der europäischen Grundwerte werden die Gespräche ausgesetzt. Die Funktionstüchtigkeit der Marktwirtschaft und die Fortschritte im rechtlichen Besitzstand werden ständig von der EU-Kommission kontrolliert und ebenso an zuvor festgelegten Grenzwerten, sogenannten benchmarks, gemessen wie die Umsetzung der Zollunion. Einige Mitgliedsrechte wie Personenfreizügigkeit sollen dauerhaft ausgesetzt werden können. Zum ersten Mal wird der Beitritt nicht als selbstverständliches Ziel vorausgesetzt. Die Verhandlungen werden als ergebnisoffen beschrieben.
Der Text spiegelt die widersprüchlichen Ziele und Interessen wider, die die 25 EU-Staaten gegenüber der Türkei verfolgen. Einige wollen lediglich zu ihren Versprechen stehen. Andere wollen ein muslimisches Land aus strategischen Gründen in die Union einbinden. Wieder andere wollen die Hürden so hoch hängen, dass es nie zu einem Beitritt kommen wird. Ob ein so zerrissener Verhandlungspartner dazu beitragen kann, den Reformgeist und die westliche Ausrichtung in der Türkei zu stärken, ist fraglich. Doch alle Beteiligten sind offensichtlich überzeugt, dass es zu spät ist, den Verhandlungsprozess zu stoppen.