1966 bis 1969: Bewährungsproben für die parlamentarische Demokratie
In der Zeit der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD führt Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) die Regierung an. Willy Brandt (SPD) ist sein Stellvertreter und gleichzeitig Außenminister. Im Bundestag stehen den 468 Abgeordneten der Regierungsfraktion 50 Abgeordnete der Oppositionsfraktion FDP gegenüber - ein der parlamentarischen Demokratie eigentlich unzuträgliches Ungleichgewicht. Doch sehen sich auch die Regierungsfraktionen in verstärktem Maße dazu aufgerufen, die Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle der Regierung wahrzunehmen. Das parlamentarische Ungleichgewicht wird so gemildert.
Notstandsverfassung verabschiedet
Erkennbar wird dies vor allem bei den Beratungen besonderer Gesetze und Verfassungsänderungen. Diese behandeln den Fall innerer und äußerer Notstände, kriegerischer Verwicklungen, Aufruhr oder auch Naturkatastrophen. Alliierte Vorbehaltsrechte träten in diesen Fällen außer Kraft. Nach jahrelangen ergebnislosen Anstrengungen gelingt es schließlich dem Parlament unter der Großen Koalition, eine Notstandsverfassung zu verabschieden. Sie wahrt die die Rechte des Parlaments: Auch beim Eintreten eines Notstands soll die Regierung parlamentarischer Kontrolle unterliegen. Sollte in einem Notstandsfall der Bundestag verhindert sein, so tritt ein "Gemeinsamer Ausschuss" als Notparlament an seine Stelle. Der Gemeinsame Ausschuss setzt sich zu zwei Dritteln aus Mitgliedern des Bundestages und einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates zusammen. Schon in normalen Zeiten muss der Ausschuss über die Regierungsplanungen unterrichtet werden. Die in dieser Sache geführten Bundestagsdebatten sind mit ihrem Ringen um rechtsstaatlich tragbare Lösungen für den Kriegs- und Notstandsfall besondere Höhepunkte in der Geschichte des Bundestages. Die Abgeordneten verabschieden die Verfassungsänderungen und -ergänzungen und einer Reihe von einfachen Gesetzen im Mai 1968.
Außerparlamentarische Opposition (APO) formiert sich
In diesen Jahren formiert sich gegen die geplanten Notstandsregelungen eine außerparlamentarische Opposition (APO) als Protestbewegung. Sie verbindet sich mit der teilweise marxistisch und antiparlamentarisch orientierten studentischen Protestbewegung, die sich gegen den amerikanischen Vietnamkrieg und die NATO richtet - wie in anderen westlichen Ländern auch. Die Proteste richten sich gegen die bestehenden Verhältnisse - das bestehende "System" - überhaupt und das so genannte Establishment. Einige ihrer Wortführer fordern eine Revolutionierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Anderen geht es hauptsächlich um eine Demokratisierung der Hochschulen. 1968 kommt es an zahlreichen Universitätsstädten zu den so genannten Osterunruhen - ausgelöst durch ein Attentat auf Rudi Dutschke, einem der führenden Köpfe der Bewegung. Wiederholt geht der Bundestag auf Unruhen ein - unter anderem mit Sondersitzungen. Die Parlamentarier zeigen mitunter Verständnis für die Motive der Unzufriedenheit in der jungen Generation. Sie verurteilen jedoch entschieden Gewalt bei der Verfolgung politischer Ziele.
Verfassung den Zeiterfordernissen angepasst
Die Regierungszeit der Großen Koalition dauert nicht ganz drei Jahre. In dieser Zeit werden auch eine Reihe von Gesetzen beschlossen, die für die spätere Entwicklung von grundlegender Bedeutung sind:
- das Gesetz zur Einführung der Mehrwertsteuer
- das (später noch wiederholt revidierte) Parteiengesetz das die Stellung und die innere Ordnung der politischen Parteien regelt
- das Berufsbildungsgesetz, das erstmals bundeseinheitlich die betriebliche Ausbildung, Fortbildung und Umschulung regelt
- das Arbeitsförderungsgesetz
- das Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder, das deren Diskriminierung beseitigt
- das Hochschulbauförderungsgesetz, das den Hochschulneubau und - ausbau als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern vorsieht.
Zwei große Gesetzgebungswerke widmen sich der Reform auf den Gebieten der Wirtschaft, Finanzen und des Bildungswesens:
- das Stabilitätsgesetz, mit dem ein Instrumentarium zur Konjunktursteuerung und Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geschaffen wird
- die Reform der Finanzverfassung, mit der die Aufteilung der Steuermittel von Bund, Ländern und Gemeinden neu geregelt wird und dem Bund neue Kompetenzen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich eingeräumt werden.
Insgesamt nehmen Bundestag und Bundesregierung die mit der großen Mehrheit der Koalition gegebene Möglichkeit wahr, die Verfassung in verschiedenen Bereichen den Zeiterfordernissen entsprechend anzupassen.
Entspannungspolitik erleidet Rückschlag
Der schon unter Erhard begonnene Auflockerungsprozess in den Beziehungen zu den Ostblockstaaten einschließlich der DDR wird unter Bundeskanzler Kiesinger und dem sozialdemokratischen Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt behutsam fortgesetzt. Erstmals gibt es mit einem vom Bundestag begrüßten deutschdeutschen Notenwechsel offizielle Kontakte zwischen den Regierungen, die jedoch wieder abgebrochen werden. Erstmals auch erteilt der Bundeskanzler im März 1968 dem Bundestag einen Bericht zur Lage der Nation. Wie vom Bundestag beschlossen, soll der Bericht künftig jedes Jahr vor dem Parlament abgegeben werden.
Doch erleidet die auch vom Bundestag befürwortete Entspannungspolitik einen Rückschlag. Im August 1968 beenden die Staaten des Warschauer Pakts die reformkommunistischen Bestrebungen in der Tschechoslowakei ("Prager Frühling") mit einer bewaffneten Intervention. Erst mit der 1969 gebildeten sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt beginnt ein neues Kapitel in den Beziehungen zur Sowjetunion und zu anderen Staaten des Ostblocks einschließlich der DDR.