1982 bis 1989: Gesellschaftlicher Wandel, weltgeschichtliche Wende
Das ehemalige Bündnis zwischen der Union und der FDP lebt wieder auf und der bisherige Oppositionsführer Helmut Kohl (CDU) wird auf dem Weg eines konstruktiven Misstrauensvotums am 1. Oktober 1982 neuer Bundeskanzler. Der bisherige Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher (FDP), einer der Architekten dieser "Wende", behält auch in der neuen Koalitionsregierung seine bisherigen Ämter. Nach Erfüllung eines "Dringlichkeitsprogramms " zur Konsolidierung des Haushalts und der Finanzen ergeben die auf den März 1983 vorgezogenen Neuwahlen eine eindrucksvolle Bestätigung der neuen Koalition. Zugleich gelingt es der noch jungen Partei der GRÜNEN, als vierte Fraktion in den Bundestag einzuziehen.
Arbeitslosigkeit bleibt hoch
Die Regierungserklärungen von Helmut Kohl nach seiner Wahl zum Bundeskanzler markieren die programmatischen Schwerpunkte der Regierungspolitik für die kommenden Jahre: wirtschaftlicher Aufschwung, Modernisierung der Wirtschaft, Abbau der Massenarbeitslosigkeit, Anschluss an die wissenschaftlich-technologische Entwicklung, Stärkung des Investitionswillens und der Investitionsfähigkeit. Doch während es in den folgenden Jahren zu einem neuen Wirtschaftswachstum kommt, geht die Arbeitslosigkeit erst gegen Ende des Jahrzehnts zurück, bleibt aber weiterhin hoch.
Jahr | 1982 | 1984 | 1986 | 1988 | 1990 |
---|---|---|---|---|---|
Mrd. DM | 2.001,0 | 2.093,5 | 2.186,1 | 2.301,0 | 2.520,4 |
Jahr | 1982 | 1984 | 1986 | 1988 | 1990 |
---|---|---|---|---|---|
Prozent | 7,5 | 9,1 | 9,0 | 8,7 | 7,2 |
Anzahl | 1.833.244 | 2.265.559 | 2.228.004 | 2.241.556 | 1.883.147 |
*Arbeitslose in Prozent der abhängigen Beschäftigten (ohne Soldaten und Soldatinnen)
Quelle: Statistisches Bundesamt
Neue Phase des Wettrüstens zwischen den Supermächten
Auch dieses Mal steht jedoch nach den Wahlen zunächst wieder die Debatte um die Außen- und Sicherheitspolitik im Brennpunkt des öffentlichen Interesses: Im November 1983 debattiert der Bundestag zwei Tage lang, von Massenprotesten und -demonstrationen der Friedensbewegung begleitet, über die Nachrüstung und die Erfüllung des zweiten Teils des NATO-Doppelbeschlusses. Am Ende fällt die Entscheidung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition aus SPD und GRÜNEN zugunsten der Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen. Damit beginnt eine neue Phase des Wettrüstens zwischen den Supermächten. Doch gelingt es der Bundesregierung, die DDR trotz der Stationierung neuer atomarer Raketen auf deutschem Boden für eine Politik der gemeinsamen Verantwortung für den Frieden zu gewinnen und das deutsch-deutsche Verhältnis im weiteren Verlauf sogar durch neue Abkommen zu verbessern.
Modernisierung der Wirtschaft
Entsprechend den von der Bundesregierung gesetzten Schwerpunkten beschließt der Bundestag Gesetze, die dem Wirt- schaftswachstum und der Modernisierung der Wirtschaft dienen und zugleich die Staatsausgaben reduzieren sollen: Gesetze zur Steuerentlastung, zur Senkung der Grunderwerbssteuer, zur Förderung des Mietwohnungsbaus und vor allem zu einer dreistufigen Steuerreform, mit der die Steuerlast insbesondere im mittleren Progressionsbereich gesenkt wird. Kürzungen im Sozialbereich bieten Anlass zu heftigen Kontroversen. Besonders umstritten ist die 1989 beschlossene Strukturreform im Gesundheitswesen mit Leistungskürzungen und höherer Selbstbeteiligung der Patienten. Zu den Verbesserungen auf sozialem Gebiet gehören die Einführung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs für Mütter und Väter, die ein neugeborenes Kind selbst betreuen. Familien werden durch Kindergeld und Kinderfreibeträge entlastet.
Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft
Inzwischen verstärken sich bestimmte Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft, die schon in den Siebzigerjahren in Erscheinung getreten sind, und beschäftigen immer wieder den Bundestag in Aktuellen Stunden und politischen Debatten: die kritische Jugend, Gewalt bei Demonstrationen gegen Kernkraftanlagen und andere Großprojekte, im Zusammenhang mit der Friedensbewegung auch die alternative Bewegung und die Frauenbewegung, aber auch der wachsende Zustrom von Asylbewerbern, Aussiedlern und Umsiedlern sowie aufkommende Fremdenfeindlichkeit. Auch die Bedrohung durch den RAF-Terrorismus mit neuen Mordanschlägen hält an. Die angesetzte Volkszählung stößt in der Bevölkerung wegen der Befürchtung des Datenmissbrauchs durch den Staat auf Ablehnung und muss verschoben werden: Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht eine Neufassung des Volkszählungsgesetzes unter Berücksichtigung des vom Gericht herausgestellten "Rechts auf informationelle Selbstbestimmung" erforderlich.
Bekenntniss zur Schuld und Schuldverstrickung
Der 40. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1985 führt zu neuen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit. Eine aus Anlass des Jahrestags vor den Mitgliedern des Bundestages und Bundesrates gehaltene Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker wird wegen ihres klaren Bekenntnisses zur Schuld und Schuldverstrickung vieler Deutscher im Zusammenhang mit den NS-Verbrechen von einem großen Teil der Deutschen sowie weltweit mit Respekt, Anerkennung und Zustimmung aufgenommen.
Katastrophe in Tschernobyl
Neue Gesetze zum Umweltschutz setzen die unter der Vorgängerregierung begonnene Umweltpolitik fort. Nach der Katastrophe im russischen Kernkraftwerk von Tschernobyl im April 1986 wird ein Umweltministerium gegründet und ein Umweltausschuss des Bundestages eingesetzt. Enquetekommissionen sollen den sich aus der wissenschaftlich-technischen und industriellen Entwicklung ergebenden Problemen nachgehen.
Flick- und Parteispendenaffäre
Das Ansehen der Parteien, des Parlaments und der Regierung wird zeitweilig überschattet von verschiedenen Affären, unter anderem der Flick- und Parteispendenaffäre. Als bekannt wird, dass FDP-Minister unversteuerte Spendengelder des Flick- Konzerns angenommen haben, setzt der Bundestag einen Untersuchungsausschuss ein. Dabei ergibt sich, dass auch andere Parteien entgegen den Gesetzen unversteuerte Spendengelder angenommen haben - unter anderem auf dem Umweg der gemeinnützigen Organisationen. In der Folge werden die Bestimmungen des Parteiengesetzes über die Offenlegung privater Spenden verschärft und um eine Neuregelung ihrer steuerlichen Abzugsfähigkeit ergänzt.
Vorbereitung einer Parlamentsreform
Mit dem Ziel, die Arbeitsweise und die Arbeitsbedingungen des Parlaments zu verbessern und öffentlichkeitswirksamer zu gestalten, kommt es im Bundestag wiederholt zu Aussprachen in eigener Sache und zur Vorbereitung einer Parlamentsreform. Inzwischen verändert sich das äußere Erscheinungsbild des Bundestages: Seit September 1986 tagt das Parlament in einem Ersatzplenarsaal, der im Gebäude des ehemaligen, auf dem Gelände des Bundestages liegenden Wasserwerks eingerichtet wird, da der alte Plenarsaal baufällig geworden ist und Einsturzgefahr droht. Vor die Frage gestellt, ob der alte Plenarsaal saniert oder durch einen Neubau ersetzt werden soll, entscheidet sich der Bundestag schließlich für einen Neubau.
Öffnung der Berliner Mauer
Zu einem zentralen Thema werden in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts die in der Sowjetunion und in anderen osteuropäischen Staaten vor sich gehenden Veränderungen, die schließlich zu einem Ende der Ost-West-Konfrontation führen: die in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow eingeleiteten demokratischen Reformen, seine Bereitschaft zur Beendigung des Wettrüstens und zum Beginn einer wirksamen Abrüstung sowie der nicht mehr aufzuhaltende demokratische Aufbruch in Polen und Ungarn. Doch das auch in der DDR von immer mehr Bevölkerungsgruppen und der vor allem im Raum der evangelischen Kirche entstehenden Umwelt- und Bürgerrechtsbewegung zum Ausdruck gebrachte Verlangen nach Reformen scheitert dort zunächst an der starren Haltung der Parteiführung. Erst die Ereignisse des Jahres 1989, die Massenflucht junger Menschen, die Öffnung des Eisernen Vorhangs durch Ungarn und schließlich die von Leipzig, Dresden und Berlin ausgehende friedliche Revolution, bringen das verhärtete System zum Einsturz. Der Bundestag und die Bundesregierung reagieren auf die Entwicklung in der DDR vorsichtig und zurückhaltend und rufen die Verantwortlichen zu Reformen und Gewaltlosigkeit auf. Als dann am späten Abend des 9. November 1989 während einer Plenarsitzung die Nachricht von der Öffnung der Mauer eintrifft, wird dieses Ereignis mit tiefer Bewegung und Freude als Zeichen für eine nicht mehr aufzuhaltende Wende aufgenommen.