1998 bis 2005: Rot-grüne Koalition mit neuen Zielen
Der Ausgang der Wahlen 1998 bedeutet einen durchgreifenden gedanklichen Einschnitt: Erstmals gelingt es den Sozialdemokraten, eine Wahl aus der Opposition heraus zu gewinnen und stärkste Fraktion zu werden. Daraufhin wählt der Bundestag Wolfgang Thierse (SPD) zum neuen Bundestagspräsidenten. Zusammen mit Bündnis 90/DIE GRÜNEN bildet die SPD die rot-grüne Koalitionsregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Bündnis 90/Die Grünen treten damit zum ersten Mal in eine Bundesregierung ein. Zu den Zielen der neuen Regierung gehören unter anderem eine ökologische Steuerreform sowie der schrittweise Ausstieg aus der Kernenergie. Auch bei der Bundestagswahl 2002 erhalten SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN zusammen eine - allerdings knappe - Mehrheit und können so die bisherige Koalition unter Gerhard Schröder fortführen. CDU/CSU und FDP, die erhebliche Stimmengewinne für sich verbuchen können, bleiben in der Opposition.
Auslandseinsätze der Bundeswehr
Unmittelbar nach den Wahlen 1998 steht zunächst der noch im Amt befindliche alte Bundestag vor der Aufgabe, über den Einsatz deutscher Truppen im Kosovo-Konflikt zu entscheiden. Er stimmt mit großer Mehrheit zu. Auch der neue Bundestag steht hinter der Bundesregierung, als die NATO in Übereinstimmung mit der EU im März 1999 mit Luftschlägen gegen Serbien beginnt, weil Serbien nicht bereit ist, den internationalen Forderungen zur Änderung seines Vorgehens im Kosovo gegen den nichtserbischen Bevölkerungsteil nachzukommen. Ebenso unterstützt der Bundestag die vom Weltsicherheitsrat beschlossene Entsendung einer internationalen Friedenstruppe nach Ost-Timor. Er beschließt die Beteiligung Deutschlands mit einem Kontingent deutscher Sanitätssoldaten.
Verschärfung des Irak-Konflikts
Nach den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 wird die Frage der Entsendung deutscher Truppen erneut akut. Die deutsche Bereitschaft, sich aktiv und solidarisch an der Bekämpfung des Terrorismus zu beteiligen, führt dazu, dass seitens der USA deutsche militärische Unterstützung in Afghanistan erbeten wird. Um dazu die - zunächst nicht sichere - Zustimmung der Koalitionsfraktionen zu erhalten, sieht sich Bundeskanzler Schröder veranlasst, den Antrag mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Der Kanzler gewinnt die Abstimmung. Die in der Sache an sich zustimmungsbereite Union sowie die FDP stimmen wegen der damit verbundenen Vertrauensfrage mit "Nein". Innenpolitisch hat die Bedrohung durch den Al- Qaida-Terrorismus die Verabschiedung einer Reihe von Sicherheitsgesetzen zur Folge. Im Laufe des Jahres 2002 zeichnet sich die Möglichkeit eines militärischen Vorgehens der USA und Großbritanniens gegen den Irak ab. Die USA vermuten Massenvernichtungsmittel im irakischen Besitz. Bundeskanzler Schröder erklärt noch vor den Wahlen 2002, dass sich Deutschland in diesem Fall unter keinen Umständen an einem militärischen Vorgehen beteiligen werde. Mit der Verschärfung des Irak-Konflikts im Winter 2002/2003 nimmt diese Frage in den Debatten des Bundestages einen großen Raum ein. Die Opposition kritisiert die Haltung der Bundesregierung gegenüber den Vereinigten Staaten. Doch bleibt es bei dem Beschluss, sich nicht an einem Krieg gegen das Saddam-Regime zu beteiligen. Im Frühjahr 2003 beginnen Streitkräfte unter Führung der USA mit der vorbereiteten Offensive.
Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin
In den Sommerwochen des Jahres 1999 zieht der Bundestag von Bonn nach Berlin um. Am 7. September 1999 nimmt er seine Arbeit im neu ausgebauten Reichstagsgebäude in Berlin auf - genau 50 Jahre nach der Konstituierung des ersten Bundestages in Bonn. Besondere Schwerpunktthemen seiner Arbeit über die laufende Wahlperiode hinaus bilden
- die zukünftige Finanzierung und Ausgestaltung der sozialen Sicherheitssysteme,
- die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik,
- sowie - damit zusammenhängend - die Steuer- und Finanzpolitik.
Zu den ersten Maßnahmen der rotgrünen Koalition auf arbeits-, sozial- und gesundheitspolitischem Gebiet gehören die Rücknahme einer Reihe von sozialen Kürzungen und Einschränkungen, die der vorhergehende Bundestag mit der Mehrheit von Union und FDP beschlossen hatte. So werden zum Beispiel die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und der gesetzliche Kündigungsschutz wieder hergestellt, die Absenkung des Rentenniveaus mit der Einführung eines demographischen Faktors aufgehoben und die Zuzahlungen für Medikamente herabgesetzt.
Einführung der Ökosteuer
Die stufenweise Einführung einer Ökosteuer auf den Energieverbrauch soll unter anderem dazu dienen, die Rentenbeiträge stabil zu halten. Der Ökosteuer steht mit dem Steuersenkungsgesetz eine ebenfalls stufenweise Senkung der Einkommensteuer- und Gewerbesteuerbelastung gegenüber. Allerdings wird später die für 2003 vorgesehene zweite Stufe der Entlastung um ein Jahr verschoben, um ausreichende Mittel zur Beseitigung der gewaltigen, durch die Hochwasserkatastrophe vom Sommer 2002 verursachten Schäden bereitstellen zu können. Ein Steuervergünstigungsabbaugesetz - von der Union strikt abgelehnt - soll den öffentlichen Haushalten Steuermehreinnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe einbringen. Mit einer Reform der Rentenversicherung soll die Altersvorsorge auch auf längere Sicht gesichert werden. Die Reform sieht neben der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung die Möglichkeit zum steuerlich geförderten Aufbau einer zusätzlichen privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge vor. Mit einem Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung und einem Gesundheitsreformgesetz sowie weiteren gesetzlichen Regelungen soll das Gesundheitswesen qualifizierter und effizienter gestaltet werden. Doch bleibt die Gestaltung des Gesundheitswesens und die Begrenzung seiner Kosten auch in der 15. Wahlperiode auf der Tagesordnung.
Neues Staatsbürgerrecht
Nach Auseinandersetzungen im Bundestag und in der Öffentlichkeit um die Zulassung einer doppelten Staatsangehörigkeit wird schließlich über ein neues Staatsbürgerrecht ein Kompromiss erzielt. Es sieht unter anderem vor, dass in Deutschland geborene Kinder von hier lebenden ausländischen Eltern, von denen ein Elternteil einen verfestigten Aufenthaltsstatus besitzt, die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben. Das bisher geltende Abstammungsprinzip wird durch das Geburtsortsprinzip ergänzt. Dagegen wird ein vom Bundestag beschlossenes Zuwanderungsgesetz nach einer umstrittenen Abstimmung im Bundesrat von als nicht zustande gekommen und daher für nichtig erklärt. Die Abstimmung war zunächst als Zustimmung gewertet worden und löste eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht aus. Erst ein im Bundestag der 15. Wahlperiode neu eingebrachtes, verändertes Zuwanderungsgesetz kann die Hürden nehmen und am 1. Januar 2005 in Kraft treten. Deshalb befasst sich der Bundestag in der 15. Wahlperiode wieder mit der Frage der gesetzlichen Regelung zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung sowie der Integration von Ausländern.
Entschädigung für Zwangsarbeiter, EU-Erweiterung, Embryonenschutz
Erneut beschäftigt sich der Bundestag auch mit Folgen der NS-Vergangenheit. Mit der Gründung einer Stiftung durch ein vom Bundestag verabschiedetes Gesetz werden die Verhandlungen über eine Zwangsarbeiterentschädigung zum Abschluss gebracht. Der Bundestag berät über die Osterweiterung der EU. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist zwischen der Koalition und der Union umstrittene. Der Bundestag ratifiert zwar den Europäischen Verfassungsvertrag, der jedoch in einzelnen anderen EU-Staaten durch Volksentscheid abgelehnt wird. Die Genomforschung wirft Fragen von besonderer ethischer Tragweite wirft. Der Bundestag verabschiedet ein neues Embryonenschutzgesetz, das die Gewinnung embryonaler Stammzellen verbietet und den Import nur unter strengsten Auflagen erlaubt. Der Bundestag tritt mit großer Mehrheit für ein weltweites Verbot des Klonens von Menschen ein.
Freiwilliger Waffendienst für Frauen
Aus vielen weiteren Politikbereichen, in denen Änderungen vorgenommen werden oder Neues beschlossen wird, können hier nur wenige Beispiele genannt werden, so zum Beispiel
- der verbesserte Verbraucherschutz
- die Förderung alternativer und erneuerbarer Energiegewinnung (durch Nutzung der Wind- und Sonnenenergie und der Biomasse)
- die Förderung der ökologischen Landwirtschaft
- die Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz
- die Änderung des Grundgesetzes, der den Freiwilligen Waffendienst für Frauen ermöglicht.
Ein von der Koalition eingebrachtes Lebenspartnerschaftsgesetz, das mit der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft ein neues Rechtsinstitut kreiert, sorgt auch auch außerhalb des Parlaments für Diskussionen. Große Aufmerksamkeit findet die Arbeit eines Untersuchungsausschusses, der mögliche Missstände der Visaerteilungspraxis bei deutschen Auslandsvertretungen in verschiedenen östlichen Nachbarstaaten aufklären soll.
Gravierende soziale, wirtschaftliche und finanzielle Probleme
Doch immer stärker bestimmen gravierende soziale, wirtschaftliche und finanzielle Probleme die Debatten im Bundestag: schwaches Wirtschaftswachstum, stetiger Anstieg der Arbeitslosigkeit, die immer schwieriger werdende Haushalts- und Finanzlage. Zudem zeigt sich, dass der Sozialstaat auf die demographischen Veränderungen der Gesellschaft nicht genügend vorbereitet ist: Immer mehr älteren Menschen stehen immer weniger Kinder gegenüber. Das Gesundheitswesen erweist sich als zu teuer und nicht effizient genug. Seine Kosten belasten in der Krise zudem die Wirtschaft und zusätzlich den Staatshaushalt. Hinzu kommen für Bund, Länder und Gemeinden immer schwerer zu tragende Schuldenlasten. Ein in einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers im März 2003 angekündigtes, breit angelegtes Reformprogramm, die Agenda 2010, will auf diese Probleme Antworten geben. Die Agenda sieht unter dem Motto "Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung" Maßnahmen zu einer weit reichenden Umstrukturierung vor auf den Gebieten Konjunktur und Haushalt, Arbeit und Wirtschaft sowie soziale Absicherung im Alter und bei Krankheit. Zu den vorgesehenen Projekten gehören
- ein kommunales Investitionsprogramm,
- eine weitergehende Flexibilisierung des Arbeitsmarkts,
- eine Begrenzung des Arbeitslosengelds,
- eine Modernisierung im Handwerksrecht,
- eine solidarische Reform des Gesundheitswesens, das in der bestehenden Form nicht mehr finanzierbar ist.
Zusammenlegung der bisherigen Arbeits- und Sozialhilfe
Einige Reformen wurden schon vor dieser Erklärung auf den Weg gebracht. Eine Krise der Finanzierung der Renten soll mit neuen Regelungen für die Beiträge und die Bemessung der Rentenhöhe nachhaltig abgewendet werden. Außerdem beschließt der Bundestag mit Zustimmung der Union eine Gesundheitsreform. Sie soll die Kostensteigerung im Gesundheitswesen begrenzen, die Krankenkassenbeiträge stabilisieren und gleichzeitig die Lohnnebenkosten senken. Gegen die umfassende Reform des Arbeitsmarkts kommt es wegen befürchteter Leistungskürzungen und Vermögensanrechnungen zu zahlreichen außerparlamentarischen Protestaktionen - insbesondere gegen die zusammenfassend als Hartz IV bezeichneten Reformen. Deren Kernelement ist die Zusammenlegung der bisherigen Arbeits- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II. Die Union unterstützt im Großen und Ganzen die Hartz-Gesetze trotz Kritik an einzelnen Bestimmungen -mit dem Ziel, sich als "konstruktive Opposition" Reformen nicht in den Weg zu stellen Auch die FDP begrüßt insbesondere die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, sieht jedoch in der Ausgestaltung viele Mängel. Scharfe Kritik dagegen wird seitens der Opposition an der Haushaltspolitik geübt, vor allem an der stark anwachsenden Neuverschuldung.
Bundeskanzler Schröder strebt vorgezogene Neuwahlen an
In der Fraktion und Partei der SPD regt sich aber mehr und mehr Widerstand gegen Teile der Agenda 2010. Mit dem Wahlsieg der CDU bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 verstärkt sich die Stimmenmehrheit im Bundesrat zugunsten der Opposition. Deshalb entschließt sich Bundeskanzler Schröder, vorgezogene Neuwahlen anzustreben. Auch die Opposition stimmt vorgezogenen Neuwahlen zu. Den Weg dazu eröffnet ein Antrag des Bundeskanzlers an den Bundestag nach Artikel 68 des Grundgesetzes, ihm das Vertrauen auszusprechen. Wie vom Kanzler erwartet, findet der Antrag in der namentlichen Abstimmung am 1. Juli 2005 nicht die erforderliche Mehrheit. Daraufhin schlägt er dem Bundespräsidenten vor, von der dem Bundespräsidenten für einen solchen Fall von der Verfassung gegebenen Möglichkeit Gebrauch zu machen, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Nach Gesprächen mit Partei- und Fraktionsvertretern und eingehender Prüfung der vom Kanzler genannten Gründe folgt Bundespräsident Horst Köhler diesem Vorschlag. In einer Fernsehansprache begründet Köhler seine Entscheidung und führt dazu unter anderem aus: "Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder steht auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie dagewesenen kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine verlässliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen. "