1990 bis 1998: Einheit, Europa, Globalisierung
Der Einheitsvertrag der beiden deutschen Staaten kommt zugleich einem Friedensvertrag gleich, da er unter anderem die Oder-Neiße-Linie als endgültige Grenze zwischen Deutschland und Polen festlegt. Der erste gesamtdeutsch gewählte Bundestag hat dann große innenpolitische Probleme zu lösen: die Bewältigung der einheitsbedingten Aufgaben, vor allem der Aufbau Ost, der den Einsatz gewaltiger Finanzmittel - weit mehr als ursprünglich angenommen - erfordert. Nach langem Ringen wird die Finanzierung zwischen Bund und Ländern schließlich mit dem Abschluss eines Solidaritätspakts gelöst.
Herstellung der inneren Einheit
Das Thema der Einebnung der Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die Herstellung der inneren Einheit, steht das ganze Jahrzehnt über auf der Tagesordnung und bleibt ein Streitthema zwischen der Koalition und den Oppositionsparteien. Dazu gehört auch die im Einheitsvertrag vereinbarte Revision des Grundgesetzes. Trotz einer Reihe von Änderungen und Ergänzungen wie der Neuformulierung der Präambel, der Einfügung ergänzender Bestimmungen zur Förderung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, zum Verbot der Diskriminierung Behinderter und zur Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel sowie der Aufnahme von Modalitäten zur Verwirklichung eines vereinten Europas bleibt die Verfassung im Wesentlichen in ihrer bisherigen Gestalt erhalten. Weitergehende, insbesondere aus den Reihen der Opposition eingebrachte Änderungs- und Ergänzungsvorschläge finden keine parlamentarische Mehrheit.
Neue Regelungen zum Paragrafen 218
Einheitsbedingt muss sich der Bundestag erneut mit der Frage des Schwangerschaftsabbruchs befassen, da seine noch aus der DDR-Zeit in Ostdeutschland fortbestehende weitgehende Freigabe eine für die ganze Bundesrepublik gültige Neuregelung erforderlich macht, die eine Straflosigkeit eines Abbruchs innerhalb der ersten drei Monate und eine obligatorische Beratung vorsieht.
Berlin künftiger Sitz von Parlament und Regierung
Und schließlich muss der Bundestag über seinen zukünftigen Sitz einen endgültigen Beschluss fassen, nachdem bereits im Einheitsvertrag Berlin zur Hauptstadt bestimmt wurde. Nach wochenlangen Auseinandersetzungen und einer ganztägigen Debatte fällt am 20. Juni 1991 die Entscheidung für Berlin als künftigem Sitz von Parlament und Regierung. Später wird dieser Beschluss durch das Berlin-Bonn-Gesetz präzisiert und dahingehend ergänzt, dass der Bundestag im Sommer 1999 nach Berlin umziehen wird.
Sprunghaft ansteigender Zustrom von Asylbewerbern
Erst einmal kann der Bundestag jedoch in Bonn seinen neu erbauten Plenarsaal beziehen, in dem vom November 1992 bis zum Umzug nach Berlin seine Plenarsitzungen stattfinden. Wie schon mehrmals zuvor steht auch in diesen Jahren wieder der sprunghaft ansteigende Zustrom von Asylbewerbern auf der Tagesordnung. Nach andauernden und teilweise heftigen Auseinandersetzungen im Parlament und in der Öffentlichkeit einigen sich schließlich CDU/CSU und SPD auf den so genannten Asylkompromiss, durch den unter anderem einschränkende Bedingungen für Asylsuchende, die sich in EU-Mitgliedstaaten befinden, in das Grundgesetz aufgenommen werden.
Neue Entwicklungen auf der Weltbühne
Neue Entwicklungen auf der Weltbühne lassen auch die deutsche Außen- und Innenpolitik nicht unberührt. Der im Januar 1991 ausbrechende Golfkrieg erfordert zwar keine deutsche Beteiligung an der multinationalen Streitmacht, verlangt jedoch einen beträchtlichen Beitrag zu den Kriegskosten. Auch in den Folgejahren ist eine Beteiligung deutscher Soldaten an friedenerhaltenden und friedenstiftenden Einsätzen der NATO außerhalb des NATO-Gebiets - "out of area" - zunächst zwischen der Regierung und der Opposition und auch innerhalb des Regierungslagers stark umstritten. Doch billigt der Bundestag schließlich auf einer Sondersitzung im Juli 1994 mit überwältigender Mehrheit die Beteiligung deutscher Soldaten am NATO-Einsatz im Konflikt um Bosnien-Herzegowina.
Globalisierung der Märkte
Eine ganz andere internationale Entwicklung erweist sich als eine immer schwieriger von einzelstaatlicher Wirtschaftspolitik zu bewältigende Herausforderung: die Globalisierung der Märkte und der wirtschaftlichen Verflechtungen. Im Bundestag geht es in den Debatten immer wieder um die Frage, wie unter den Bedingungen der Globalisierung Deutschland als Wirtschaftsstandort gestärkt und die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere in den neuen Bundesländern, verringert werden könne. Die Koalition will die Bedingungen auch durch eine große Steuerreform verbessern. Doch scheitert diese an der im Bundesrat bestehenden Stimmenmehrheit der sozialdemokratisch regierten Länder.
Jahr | 1991 | 1992 | 1994 | 1996 | 1998 | 1999 | 2000 | 2001 | 2002 | 2003 | 2004 |
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Mrd. EURO | 1.534,6 | 1.646,6 | 1.780,8 | 1 876,2 | 1.965,4 | 2.012,00 | 2.062,5 | 2.113,2 | 2.145,0 | 2.163,4 | 2.215,7 |
Jahr | 1991 | 1992 | 1994 | 1996 | 1998 | 1999 | 2000 | 2001 | 2002 | 2003 | 2004 |
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Prozent | 7,3 | 8,5 | 10,6 | 11,6 | 12,3 | 10,5 | 9,7 | 9,4 | 9,8 | 10,5 | 10,5 |
Tsd. | 2.602 | 2.979 | 3.698 | 3.955 | 4,279 | 4.100 | 3.890 | 3.853 | 4.060 | 4.377 | 4.381 |
* Arbeitslose in Prozent aller zivilen Arbeitnehmer
** In Tausend; die letzte Stelle auf- oder abgerundet
Quelle: Statistisches Bundesamt
Ausbau der Europäischen Union
Der Ausbau der Europäischen Union steht in diesem Jahrzehnt ebenfalls wiederholt auf der Tagesordnung des Parlaments mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags 1992, der eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einführung des Euro als gemeinsamer Währung vorsieht, sowie des Amsterdamer Vertrags 1997 zur Vorbereitung der europäischen Koordinierung der Außenund Sicherheitspolitik, der Beschäftigungspolitik und der EU-Osterweiterung. Sehr umstritten ist jahrelang die Einführung des Euro. Doch stimmt der Bundestag schließlich am 23. Mai 1998 der schrittweisen Einführung des Euro - endgültig im Jahr 2002 - mit großer Mehrheit zu.
Änderungen im rechts- und sozialpolitischem Bereich
Im rechts- und sozialpolitischem Bereich werden eine Reihe von Gesetzen und Gesetzesänderungen beschlossen, die der Stärkung des Rechts von Schwächeren dienen sollen, zum Beispiel dem Schutz von Kindern gegen sexuellen Missbrauch, der Verbesserung des Kindschaftsrechts oder der Gleichberechtigung von Frauen und ihrem Schutz gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Als neue sozialpolitische Säule beschließt der Bundestag die Einführung einer Pflegeversicherung zur finanziellen Absicherung der häuslichen und stationären Pflege, die mit der zu verzeichnenden Zunahme des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Andererseits werden Kürzungen im arbeits-, sozial- und gesundheitspolitischen Bereich wie Einschränkungen des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie der Leistungen im Gesundheitswesen gegen die Opposition und starke öffentliche Proteste beschlossen. Zum ersten Mal wird 1997 auch das Rentenrecht nicht mehr im Einvernehmen mit der Opposition geändert, unter anderem mit den Einführung eines demographischen Faktors und einer Absenkung der zukünftigen Rentenanpassung. Die SPD stellt ihre Ablehnung dieser Änderungen und Kürzungen im Wahlkampf 1998 besonders heraus.