1969 bis 1982: Ostverträge und Reformen, Spannungen und Krisen
Willy Brandt (SPD) steht nach einem Regierungswechsel an der Spitze einer sozial-liberalen Koalition. Außenminister und Vizekanzler wird Walter Scheel (FDP). Der Regierungsantritt Willy Brandts bedeutet einen tiefergehenden geschichtlichen Einschnitt als alle vorhergehenden Regierungswechsel. Die neue Regierung möchte ein umfangreiches Programm der Erneuerung umsetzen. Dem Bundestag stehen Jahre anstrengender Gesetzgebungsarbeit und harter Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition bevor. Einige der anvisierten Ziele sind:
- "Mehr Demokratie" in Staat und Gesellschaft
- "Liberalisierung des Strafrechts"
- "Chancengleichheit" in der Bildung
- "Ausbau des Sozialstaats"
- "Umweltschutz "
Auseinandersetzungen um die Außen- und Deutschlandpolitik
In den Anfangsjahren der sozial-liberalen Koalition wird die Öffentlichkeit zunächst ganz von den Auseinandersetzungen um die Außen- und Deutschlandpolitik gefangen genommen - wie in den Anfangsjahren der Adenauer- Zeit auch. Die vom Kanzler in Angriff genommene "neue Ostpolitik" soll das Verhältnis zur Sowjetunion und anderen kommunistisch beherrschten Nachbarstaaten normalisieren und auch die Beziehungen zur DDR auf eine feste Grundlage stellen. Der alsbald ausgehandelte Moskauer Vertrag und der Warschauer Vertrag (1972) sowie der ein Jahr später abgeschlossene Prager Vertrag verpflichten die Partner zum Gewaltverzicht. DIe Verträge bekräftigen die Respektierung und Unverletzlichkeit aller in Europa bestehenden Grenzen. Sie schließen für die Gegenwart und Zukunft jegliche Gebietsansprüche aus. Eine Politik der guten Nachbarschaft soll einen neuen "Modus Vivendi" in den gegenseitigen Beziehungen einleiten. Die Opposition übt jedoch an wesentlichen Inhalten der Verträge heftige Kritik. Sie sieht in ihnen eine Aufgabe bisheriger zentraler Rechtspositionen. Abgeordnete treten wegen der Ostpolitik aus den Reihen der Koalition zur Opposition über. Dadurch entsteht eine Patt-Situation im Parlament - eine Stimmengleichheit zwischen Koalition und Opposition. Für die Union scheint sich eine Chance zu ergeben, mit Hilfe eines konstruktiven Misstrauensvotums wieder an die Macht zu kommen und den Streit um die Ostpolitik in ihrem Sinne zu beenden.
Brief zur deutschen Einheit
Aber dieser Versuch scheitert. Daraufhin lässt schließlich auch die Opposition die in aller Welt mit Beifall aufgenommenen Verträge bei der Endabstimmung im Bundestag passieren. Zuvor hat sie sich mit der Regierung auf einen begleitenden "Brief zur deutschen Einheit" zum Moskauer Vertrag geeinigt. Der Brief soll klarstellen, dass der Vertrag dem Ziel der Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht widerspreche.
Grundlagenvertrag mit der DDR
Aufgrund der entstandenen Patt-Situation führt die Bundesregierung Neuwahlen des Bundestages herbei. Die Koalition geht aus der Wahl gestärkt hervor. Die SPD überflügelt erstmals die CDU/CSU als stärkste Fraktion. Doch die Auseinandersetzung um die Ostpolitik hält an. Der mit der DDR abgeschlossene Grundlagenvertrag eröffnet zwar den Weg zu offiziellen Beziehungen zwischen den "zwei Staaten in Deutschland" und zu einer Reihe von Abkommen unter anderem über Erleichterungen im Reise- und Besuchsverkehr. Dennoch bleibt zwischen der Koalition und der Opposition der Grundlagenvertrag ebenso umstritten wie die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO. Doch zeigt sich schon bei der Abstimmung im Bundestag über die Aufnahme in die UNO und bei der Beurteilung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa - dem KSZE-Prozess -, dass anfangs eine Minderheit und später auch die Mehrheit der Fraktion der CDU/CSU bereit ist, den ostpolitischen Kurs im Großen und Ganzen mitzutragen. Am Ende des Jahrzehnts zieht Franz Josef Strauß (CSU) als Kanzlerkandidat der Union einen Schlussstrich unter die bisherigen Auseinandersetzungen, indem er erklärt: "Pacta sunt servanda " - die abgeschlossenen Verträge müssen eingehalten werden.
Abtreibungsparagraph 218
1974 tritt Willy Brandt zurück, als sein engster Mitarbeiter Günter Guillaume als DDR-Spion enttarnt wird. Zuvor sind um die von der Regierung Brandt/ Scheel begonnenen Reformen heftige Debatten entbrannt, die auch unter der Nachfolgeregierung Schmidt/ Genscher nicht aufhören. Das gilt insbesondere für die Reform des Abtreibungsparagraphen 218 des Strafgesetzbuches. Die zunächst gesetzlich vorgesehene Fristenlösung wird vom Bundesverfassungsgericht verworfen, weil sie das Grundgesetzgebot auf Schutz des werdenden Lebens nicht genügend beachtet. Schließlich verabschiedet der Bundestag ein Gesetz, das Straffreiheit für einen Schwangerschaftsabbruch vorsieht, wenn eugenische oder medizinische Gründe indiziert werden oder soziale Notlagen vorliegen. In den Neunzigerjahren, nach der Wiedervereinigung, beginnt der Streit erneut, ausgelöst durch das in der bisherigen DDR bestehende Recht, das den Schwangerschaftsabbruch uneingeschränkt erlaubte.
Bildungschancen für Arbeiterkinder
Zu den umstrittenen Reformen gehört auch die Reform des Ehe- und Familienrechts, die unter anderem bei Ehescheidungen das bisherige Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ablöst und die Gleichberechtigung von Mann und Frau bei der Rollenverteilung zwischen Haushalt und Beruf dekretiert. Dagegen werden die Gesetze zur Rentenreform und andere Sozialgesetze einvernehmlich verabschiedet. Schließlich sind die Reformen des Bildungswesens besonders hervorzuheben, durch die die Bildungschancen für Arbeiterkinder und Kinder aus weniger bemittelten Familien verbessert werden sollen. Dazu gehört auch das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG), das unter bestimmten Voraussetzungen einen individuellen Rechtsanspruch auf finanzielle Ausbildungsförderung im Schul-und Hochschulbereich begründet.
Gesetzgebung zum Umweltschutz
Einen weiteren und neuen Schwerpunkt bildet die Gesetzgebung zum Umweltschutz, die, wie das Abwasserabgabengesetz, das Bundesimmissionsschutzgesetz oder das Abfallbeseitigungsgesetz, der Verunreinigung von Wasser, Boden und Luft entgegenwirken soll. Auch die von der Kernkraft ausgehenden Gefahren rücken stärker ins Blickfeld und rufen zahlreiche Bürgerinitiativen und Demonstrationen auf den Plan.
Bekämpfung des Extremismus und Terrorismus
Aber Bundestag und Bundesregierung haben sich in zunehmendem Maße auch mit anderen Schwierigkeiten und Gefahren auseinander zu setzen. Der Anschlag arabischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972, die Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und des Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank Jürgen Ponto durch deutsche Terroristen, die unter der Bezeichnung RAF (Rote Armee Fraktion) als radikale Abspaltung aus der 68er- Bewegung hervorgegangen ist, sowie die Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und die Entführung einer Lufthansamaschine im Jahr 1977 lassen Regierung und Opposition in der Bekämpfung des Extremismus und Terrorismus zusammenrücken. Wachsende wirtschaftliche Schwierigkeiten, das arabische Ölembargo 1973, Engpässe in der Energieversorgung und, gegen Ende des Jahrzehnts, ein explosionsartiger Anstieg der Energiepreise sind immer schwieriger zu bewältigen. Es folgen eine weltweite Wirtschaftskrise, internationale Währungsturbulenzen, inflationäre Tendenzen, ein Anstieg der strukturellen Arbeitslosigkeit und daher zunehmende Probleme für den Bundeshaushalt .
Bedrohung Westeuropas durch neue sowjetische Mittelstreckenraketen
Hinzu kommt, dass mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und mit der Bedrohung Westeuropas durch die Aufstellung neuer sowjetischer Mittelstreckenraketen die Entspannungsperiode ein jähes Ende findet. Die USA fühlen sich ihrerseits zu einer Nachrüstung der NATO in Europa herausgefordert. Die von Bundeskanzler Helmut Schmidt, vor allem aber auch von der Opposition befürwortete Absicht der USA, auch in Deutschland atomare Mittelstreckenraketen zu stationieren, falls die Sowjetunion nicht einwilligt, die Bedrohung aufzugeben - der "Doppelbeschluss" der NATO -, erhöht die Kriegsfurcht in der Bevölkerung. Die Massendemonstrationen der Friedensbewegung finden auch in den Reihen der SPD und der Gewerkschaften immer stärkeren Widerhall und schwächen die Position des Kanzlers. Unüberbrückbare Differenzen zwischen den Koalitionspartnern über den wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Kurs führen schließlich auf Betreiben der FDP im Spätsommer 1982 zum Ende der sozial-liberalen Koalition.