Walter Benjamin glaubte feststellen zu können, dass "das 19. Jahrhundert wie kein anderes wohnsüchtig war". Dieses Verdikt kollidiert etwas mit dem "Wohnfetischismus", den Alexander Mitscherlich als pathologisch und typisch für das Zentraleuropa unserer Tage bezeichnete, wobei ihm insbesondere ein Verhalten sauer aufstieß, dass zuerst auf "Sauberkeit und Ordnung" und erst dann auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist. In jedem Fall aber ist "Wohnen" keine Nebensächlichkeit, sondern paradigmatisch für unsere Lebenswelt.
Wie man sich künftig "im Leben" einzurichten gedenkt: Dieser Frage geht der Zukunftswissenschaftler Horst W. Opaschowski in seinem aktuellen Buch nach. Im Rückgriff auf Repräsentativerhebungen und Befragungen stellt der Leiter des B-A-T Freizeit-Forschungsinstituts in Hamburg dabei eine so prägnante wie wohlfeile These auf: "Zukunft findet Stadt". Sieht er doch eine Renaissance urbanen Lebens heranbrechen und zugleich die Zeit gekommen, endlich Abschied zu nehmen vom Stadtpessimismus der letzten 30 Jahre. Noch scheint die Bereitschaft zu vorsorglichen strategischen Weichenstellungen im deutschen Wohnungsmarkt zwar gering. Tatsächlich aber gibt es einige Indikatoren, die einen Wertewandel - weg vom Haus im Grünen, hin zur urbanen Stadt - nahelegen.
Wenn der Autor das Wohnen in den Vordergrund rückt, dann nicht um seiner Primärfunktion willen, sondern als Ausdruck sozialer und wirtschaftlicher Trends. Die "banlieue" in französischen Großstädten spricht diesbezüglich ja eine deutliche Sprache: In vielen Großsiedlungen bleibt heute nur noch in Bildern ausgetilgten Lebens gegenwärtig, was den Initiatoren von einst soziale Verpflichtung war: die Stadt von morgen. Denn was ein neuer Anfang werden sollte, ist für diejenigen, denen er erzwungenermaßen zur Gegenwart wurde, nur noch geringschätzende Metapher - Wohnsilo, Schlafstadt und Arbeiterschließfach.
Philosophisch ausgedrückt bedeutet Wohnen soviel wie: sich die Gewissheit des Geschütztseins real und symbolisch zu bewahren. Wobei das mit den Wohnbedürfnissen so eine Sache ist. Nicht nur ausreichend groß, bezahlbar und kommod, auch flexibel soll es sein, das eigene Reich. Sich in stärkerem Maße an sich verändernde Lebenssituationen anzupassen, ist als Bedarf seit langem erkannt.
Der Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft - weg vom einseitigen Wirtschaftswachstum, hin zu mehr Lebensqualität - spielt für das Wohnen eine zentrale Rolle. Allerdings auch eine heikle: Denn darin kommt zum Ausdruck, dass Familien und Haushalte heute andere Wünsche und ein höheres "Begehren" als früher haben. Es wird von "Nachhaltigkeit" gesprochen, gleichzeitig immer mehr Fläche verbraucht - statistisch sind es heute in Deutschland pro Kopf bereits 40 Quadratmeter Wohnfläche. Andererseits ist es ein Zeichen von Anspruch auf mehr Lebensqualität.
Dass sich die Individualisierung und Pluralisierung von Wohnbedürfnissen scheinbar weniger gut im verdichteten innerstädtischen Zusammenhang und in massierter Bauweise realisieren lässt, legt die Entwick-lung der letzten Jahrzehnte nahe, in denen sich eine Bevölkerungsverschiebung in Richtung auf die Stadt-ränder und das Umland vollzog. Nach Opaschowski zeigt sich nun eine Trendumkehr. Dies wäre in der Tat erfreulich. Doch die Quellen, auf die er sich beruft, wirken nicht besonders belastbar. Es macht eben einen Unterschied, sich im Interview positiv zur Lebensqualität in der Stadt zu äußern, oder praktisch dazu einen Beitrag zu leisten. Das titelgebende Motto "besser leben, schöner wohnen" versteht sich insofern als eine Art Zukunftsstrategie, unsere Gesellschaft in ihrem inneren Zusammenhang zu stärken.
Von der "Illusion der autofreien Innenstadt" bis zu einem "neuen Bürgersinn", von der "Zunahme der Pflegefallwahrscheinlichkeit" bis zum "Wohlfühlmanagement" spannt Opaschowski einen breiten Schirm an Wechselbeziehungen auf. Das ist durchaus instruktiv, zugleich jedoch suggestiv: Wer wollte nicht wohnen in einer Stadt, die Sinnstiftung und Lebensfreude gewährt? Wo aber gibt es das so ohne weiteres? Was braucht es, damit "die" Stadt das leistet? Wer müsste was konkret ändern - politisch, baulich, in seiner Werthaltung? Nicht spekulativ, sondern lebensnah will Opaschowski sein Buch verstanden wissen. Ganz geglückt ist ihm das nicht.
Horst W. Opaschowski
Besser leben, schöner wohnen?
Leben in der Stadt der Zukunft.
Primus Verlag, Darmstadt 2005; 266 S., 19,90 Euro