Im Dezember 2003 legte Scharon den "Abkopplungsplan" zum einseitigen israelischen Abzug aus dem Gazastreifen und des nördlichen Westjordanlandes vor. Ganz deutlich sagte er in Interviews, dass ein Palästinenserstaat gegründet wird und dass "wir nicht über ein anderes Volk herrschen sollten, denn das wirft schwerwiegende moralische und ökonomische Fragen auf". Bis 1992 hat Scharon noch mehr als jeder andere israelische Politiker die jüdische Besiedlung des Westjordanlandes gefördert, um einen Palästinenserstaat zu verhindern. Aber die Liste seiner Ambivalenzen sei lang, stellen die Biografen Blum und Hefez fest. Er war auch für und gegen eine Sicher- heitsmauer im Westjordanland, für israelische Vergeltungsaktionen gegen den Irak im Golfkrieg 1991 als Jitzhak Schamir Premierminister war, aber dagegen im Golfkrieg 2003 als er selbst das Amt inne hatte.
Zu Recht stellen die beiden israelischen Redakteure bei "Yedioth Tikshoret" fest, dass Scharon niemals von einer festen Ideologie motiviert war: "Seine Liebe zur Macht war häufig ausschlaggebend." Außerdem hatte er "ein pragmatisches Verhältnis zur Ehrlichkeit". 1962 notierte Ministerpräsident David Ben Gurion, der Scharons Gönner war, in seinem Tagebuch: "Der Mann ist ein origineller Kopf. Wenn er nicht mehr gewohnheitsmäßig lügen würde, wäre er ein außerordentlicher militärischer Führer."
Seit dem 4. Januar 2006 liegt Scharon im künstlichen Koma und seitdem wird in Israel häufig über "das Vermächtnis Scharon" gestritten. Wollte er tatsächlich einen Großteil der Siedlungen räumen lassen, um einem Palästinenserstaat Platz zu machen? Oder wollte er gerade durch den einseitigen Rückzug den Friedensprozess auf Eis legen und dadurch einen Pa- lästinenserstaat verhindern?
Diese heikle Frage stellen die Autoren zu Recht bereits in der Einleitung. Eine klare Antwort liefert ihr voluminöses Werk dennoch nicht. Sie stellen lediglich fest, dass die Räumung der Siedlungen nicht dazu diente, Scharon vor polizeilichen Ermittlungen wegen Korruption zu schützen, denn er machte seine entsprechende Ankündigung zweieinhalb Jahre vor Beginn der Ermittlungen. Scharon wollte wohl nicht als Krieger, sondern als Friedensstifter in die Geschichte eingehen, vermuten Blum und Hefez.
Die 2005 in Israel erschienene Biografie ist eine chronologische, faktenreiche aber wenig analytische und häufig schmeichelnde Darstellung des Generals, Politikers und Menschen Scharon. Seine Kindheit und Jugend in einer im Dorf ausgestoßenen rechtsnationalen Familie prägten seine unnachgiebige Haltung ebenso wie das Massaker der Juden in Hebron 1929. Als die Dorfbewohner einen Teil des Grundstücks der Familie umzäunten, damit sie, wie alle Familien, Land für das benachbarte Dorf abtraten, schnappte Scharons Mutter sich mitten in der Nacht das Gewehr, rannte zweieinhalb Kilometer zum Weinberg und schnitt den drei Kilometer langen Zaun ab. Diese kompromisslose Haltung und der Kampf um Grenzen sollte Scharons Verhalten lebenslang beeinflussen.
Oft vermischten sich bei Scharon die persönlichen und die politischen Kämpfe. Es ist besonders interessant, in diesen Tagen über seinen Kampf gegen die "Baker Initiative" 1989 zu lesen. Der damalige US-Außenminister James Baker organisierte die erste Nahost-Friedenskonferenz in Madrid und Scharon zog zu Felde gegen die geplanten Wahlen einer palästinensischen Delegation für die Konferenz. Jedes Mal wenn Baker nach Israel zu Besuch kam, genehmigte Scharon den Bau einer weiteren Siedlung im Westjordanland oder im Gazastreifen. Neun Jahre später gab er als Außenminister dem amerikanischen Druck nach und saß zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben an einem Tisch mit Jassir Arafat, den er als Kriegsverbrecher betrachtete. Scharon hielt sein Versprechen und gab Arafat nie die Hand. Auf Clintons Drängen und in seiner Anwesenheit unterhielten sie sich, aber sprachen einander nicht direkt an, sondern immer nur in der dritten Person voneinander.
Besonders ärgerlich ist die Beschreibung von Scharons Rolle im Libanonkrieg. Eine israelische Untersuchungskommission empfahl, dass Scharon wegen seiner "groben Fehler", die zum Massaker an 700 Palästinensern in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila führten, sein Amt als Verteidigungsminister verlassen solle. Er wurde für seine indirekte Verantwortung lange Zeit weltweit verachtet. Seine Biografen lassen Scharon jedoch jegliche Verantwortung für das Massaker von sich weisen und den Libanonkrieg unkommentiert zum Erfolg erklären. Scharon wird als Opfer der Regierung, der Medien und der Untersuchungskommission dargestellt.
Den spannendsten Teil des Buches bilden die drei persönlichen Tragödien Scharons: der Tod seiner ersten und zweiten Frau sowie der seines ältesten Sohnes Gur. Die Szene, in der der General seinen elf-jährigen blutenden Sohn in den Armen hält, der beim Spielen mit einem alten Gewehr tödlich getroffen wurde und auf dem Weg ins Krankenhaus starb, ist rührend. Die große Liebe zu seiner zweiten Frau Lily, die bis zu ihrem Tod 37 Jahre andauerte, wird lebendig geschildert. Lily war übrigens die Schwester von Scharons erster Frau Margalit, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam.
Gadi Blum und Nir Hefez
Ariel Sharon. Die Biographie.
Hoffmann & Campe, Hamburg 2006; 592 S., 25 Euro.