Der Grundgedanke ist einfach und gut: In Deutschland erworbene Kompetenzen sollen im europäischen Ausland das gleiche wert sein, wie in der Heimat - und umgekehrt. Das heißt, sie müssen im besten Sinne des Wortes vergleichbar sein. Dass hinter dieser relativ simplen Forderung in einem stetig wachsenden und komplexer werdenden Gebilde wie der EU ein vielschichtiger, langwieriger und komplizierter Prozess steht, bedarf keiner Erläuterung. Dieser Prozess trägt den Namen Europäischer Qualifikationsrahmen.
Die Grundlage für die bildungspolitische Zukunftsausrichtung haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglieder im Jahr 2000 im Rahmen der Lissabon-Strategie beschlossen. Ihr Ziel ist es, Europa bis 2010 "zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen", schrieben sie damals fest. Mittlerweile ist diese here Zielvorgabe auf mehreren Ebenen konkretisiert worden: Mit dem so genannten Bologna-Prozess wurde eine Vergleichbarkeit für Hochschulleistungen und -abschlüsse geschaffen; Bachelor- und Masterstudiengänge sind mittlerweile auch in Deutschland eingeführt und Studienleistungen werden nach einem europäisierten Punkteverfahren bewertet, dem so genannten European Credit Transfer System (ECTS). Mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen wollen die europäischen Bildungsminister noch einen Schritt weitergehen. Anfang September haben sie in Helsinki eine Empfehlung zur Einrichtung eines EQR für lebenlanges Lernen verabschiedet. Dieser "soll als Übersetzungshilfe und neutraler Bezugspunkt dienen, um Qualifikationen aus unterschiedlichen Aus- und Weiterbildungssystemen vergleichen zu können und die Zusammenarbeit und die Vertrauensbasis zwischen den jeweils Betroffenen zu stärken". Die Transparenz der Bildung und der erworbenen Kompetenzen soll dadurch verbessert und die Übertragung von Qualifikationen unterschiedlicher europäischer Aus- und Weiterbildungssysteme und unterschiedlicher -niveaus erleichtert werden. Der EQR solle damit so etwas wie ein "europäisches Meta-System der Bildungspolitik" sein, sagt Michael Teutsch von der EU-Kommission Bildung und Kultur.
Kern des EQR ist ein achstufiges System von Kompetenzniveaus, mit denen Lernergebnisse beschrieben werden. Anhand festgelegter, vereinheitlichter Merkmale, der Experte spricht von Deskriptoren, soll festgehalten werden, was ein Lernender weiß, was er versteht und was er in der Lage ist, zu tun. Keine Rolle spielt, in welchem System oder Land diese Kompetenzen erworben worden sind. Die im EQR festgeschriebenen Referenzniveaus stellen damit eine Abkehr vom traditionellen Ansatz dar, bei dem der Lerninput, das heißt zum Beispiel die Lerndauer und die Art der Lehreinrichtung, im Vordergrund stehen. Im Qualifikationsrahmen soll der Schwerpunkt auf objektiv messbare und dadurch vergleichbare Lernergebnisse verschoben werden. In einem anderem Zusammenhang hat Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl formuliert: "Entscheiden ist, was hinten rauskommt." Das trifft auch auf den EQR zu.
Da der Qualifikationsrahmen ein Instrument zum lebenslangen Lernen sein soll, umfasst er allgemeine Bildung und Erwachsenenbildung ebenso wie berufliche Aus- und Weiterbildung und höhere Bildung. Mit den acht Niveaus sollen sämtliche Qualifikationen abgedeckt werden, vom allgemeinen und beruflichen Pflichtschulabschluss bis zum Ingenieursdiplom, zur Habilitation oder zum Handwerksmeister.
Kritiker sehen darin eines der größten Probleme. Klaus Heimann, IG-Metallvorstand für Bildungs- und Qualifizierungspolitik, hält es für schwierig die Vielfalt der europäischen Berufs- und Hochschulbildung in einem System einzuordnen. "Wir sind skeptisch, ob das in der Realität erreicht werden kann", sagt er.
Sorge, dass die Versuche, in allen Ländern vergleichbare Qualifikationen zu schaffen, zu einer starken Modularisierung von beruflicher Bildung führen, hat Sybille von Obernitz vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag. "Wir brauchen einen großen Sockel an gemeinsamen Kompetenzen, aber am Ende der Ausbildung ein Stück Differenziertheit", fordert sie. Zum Teil seien Berufsbilder in Deutschland und in anderen europäischen Ländern "etwas überfrachtet mit Spezialisierung". Das macht es schwierig, Qualifikationen im Ausland anzuerkennen, wenn es im dortigen Land solche Spezialqualifikationen oder -ausbildungen nicht gibt.
Bereits bestehende Systeme zur besseren Anerkennung von Studien- und Berufsleistungen sollen nicht durch den EQR verdrängt, sondern zusammengeführt beziehungsweise ergänzt werden. Das gilt beispielsweise für den "Europass", mit dessen Hilfe EU-Bürger ihre Fähigkeiten einheitlich beschreiben können (www.europass-info.de), ebenso wie für das Europäische System zur Anrechung von Studienleistungen (ECTS) und das gerade entstehende Europäische Leistungspunktesystem für die Berufsbildung (European Credit Transfer System for Vocational Education and Training, ECVET). Auch PLOTEUS, das Portal für Lernangebote, das hilft Qualifikationen transparenter zu machen, indem es Informationen über Bildungs-, Ausbildungs- und Lernangebote in europäischen Ländern bietet (www.ec.europa.eu/ploteus), soll ergänzend zum EQR beibehalten werden.
Derzeit wird die Empfehlung der EU-Bildungsminister vom Rat und vom Europäischen Parlament geprüft. Mit der Annahme des Vorschlags zur Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen wird vor Ende 2007 gerechnet. Parallel zum EQR sollen nationale Qualifikationssysteme, nationale Qualifikationsrahmen, geschaffen werden, sofern sie nicht bereits bestehen. Bis zum Jahr 2009 sollen diese nationalen Rahmen "an den EQR gekoppelt werden".
Im Bundestag hat sich am 11. Dezember der Bildungsausschuss mit den Themen Europäischer und Nationaler Qualifikationsrahmen in einer öffentlichen Anhörung beschäftigt. Die Anhörung ist im Internet unterwww.bundestag.de/live/tv/archstud/auss16.html abrufbar. Die Koalitionsfraktionen ( 16/2996 ), Linke ( 16/1127 ) und Grüne ( 16/1063 ) haben jeweils Anträge zum Thema eingebracht, die die Weiterentwicklung der europäischen Berufsbildungspolitik beziehungsweise die Ausgestaltung eines Europäischen Qualifikationsrahmens zum Ziel haben.