10.2.1.2
Global Governance benötigt weiterhin Nationalstaaten
Global Governance meint nicht das Ende des Nationalstaates. Im
Gegenteil: Ziel aller zwischenstaatlichen Kooperation ist es, dass
Staaten für die Bearbeitung globaler Probleme
Handlungsfähigkeit zurückgewinnen sollen. Das heißt,
Global Governance läutet gerade nicht das
Sterbeglöckchen für den Nationalstaat, sondern will ihm
dort Handlungskompetenz zurückgeben, wo er diese durch
Globalisierungsprozesse zu verlieren droht. Dies gilt
verstärkt für die Zeit nach 1990: Ist es auch zuvor schon
darum gegangen, bei zunehmender globaler Vernetzung die
gleichzeitig abnehmende Kompetenz der Nationalstaaten zur
Problemlösung auszugleichen, so fällt es heute
demokratischen Nationalstaaten zunehmend schwer, bislang national
verankerte Standards zu halten. Viele Staaten haben diese zentrale
Herausforderung erkannt und denken über neue Wege des
kooperativen Regierens nach.15
Die Diskussion über die Zukunft der
Nationalstaaten unter den Bedingungen der Globalisierung wird
häufig in der Logik von Nullsummenspielen geführt: Weil
neue Akteure in der Weltpolitik an Bedeutung gewinnen, verlieren
die Staaten an Einfluss; weil globale Institutionen wichtiger
werden, erodieren die Gestaltungsmöglichkeiten der Staaten. An
diesen Argumenten ist die Wahrnehmung richtig, dass Staaten im
Alleingang in immer mehr Politikfeldern an die Grenzen ihre
Handlungsfähigkeit stoßen, weil Probleme zunehmend
grenzüberschreitenden Charakter haben. Sie sind deshalb auf
das Zusammenspiel mit anderen Akteuren innerhalb und jenseits der
territorialen Grenzen der Staaten angewiesen, um auftretende
Probleme lösen zu können. Derzeit spricht jedoch nichts
dafür, dass sich globale Probleme und globale Interdependenzen
sowie deren Rückwirkungen auf nationale Gesellschaften in
absehbarer Zeit ohne Nationalstaaten erfolgreich bearbeiten
ließen. Allerdings müssen sich diese neuen
Rahmenbedingungen, die durch Globalisierungsprozesse geschaffen
werden, anpassen.16
Nach dem Konzept einer Global Governance verbinden
sich die verschiedenen politischen Systeme und Ebenen idealiter zu
einem subsidiären Mehr-Ebenen-Arrangement. Die Rolle
des Nationalstaates entwickelt sich im Rahmen eines solchen
Mehr-Ebenen-Modells weiter, er muss zu einer Art
„Interdependenzmanager“ (Messner 1998b) werden. Ein
idealtypisches Mehr-Ebenen-Modell des subsidiären Regierens
jenseits des Nationalstaates könnte sich durch drei Elemente
auszeichnen (vgl. Zürn 2001): Als erstes Element entwickeln
Staaten, die von grenzüberschreitenden Problemen betroffenen
sind, zusammen mit nichtstaatlichen Akteuren (vgl. Kapitel 10.3)Vorschläge für
internationale Regelungen. Diese beinhalten bestimmte Zielvorgaben,
die dann letztlich von den dafür legitimierten Staaten
vereinbart werden, etwa in Form von Rahmenrichtlinien. Zweitens
setzen entweder nationale oder auch subnationale politische
Einheiten diese Rahmenrichtlinien dank ihrer Ressourcenhoheit um.
Drittens schließlich kontrollieren staatliche und
nichtstaatliche Akteure die Umsetzung der internationalen
Richtlinien und die Einhaltung grundlegender Rechte. Entscheidend
ist dabei die gelungene Verzahnung der verschiedenen Ebenen.
Eine solche Mehrebenenpolitik strebt demokratische
Strukturen an, die einerseits noch etwas mit Nähe,
Überschaubarkeit und Erkennbarkeit zu tun haben und die
andererseits globale Probleme effektiv lösen können. Zu
bedenken sind dabei mögliche Demokratie- und
Koordinationsprobleme einer solchen Mehrebenenpolitik und die
Gefahr von Verhandlungsblockaden aufgrund unterschiedlicher
Interessenlagen. Gleichzeitig darf der Verweis auf die
Notwendigkeit internationaler Kooperation nicht zur Ausrede werden,
um nationale Verantwortlichkeiten wegzuschieben. Effektive und
legitime
Global Governance ist auf die Existenz demokratischer,
verantwortungsvoller und handlungsbereiter Staaten angewiesen.
Ergänzend dazu kann sich
Global Governance auch positiv auf „Good
Governance“ im Inneren von Staaten auswirken, was wiederum
eine zentrale Voraussetzung für deren Funktionieren ist.
Notwendig sind flankierende Maßnahmen zur
Korruptionsbekämpfung sowie die Stärkung demokratischer
Strukturen.17
Auf einer relativ hohen Abstraktionsebene lassen
sich vor dem Hintergrund dieser Problemlagen aus einer normativen
Perspektive die Aufgaben und Funktionen eines „Global
Governance-fähigen“ Staates benennen (vgl. Messner
2001b):
Staatliche Institutionen müssen
Scharnierfunktionen zwischen den verschiedenen Politikebenen
übernehmen und verstreute Steuerungs- und
Problemlösungsressourcen bündeln, um die komplexen
Interdependenzprobleme managen zu können. Der Staat muss
zunehmend Moderatorenaufgaben übernehmen, die an Bedeutung
gewinnen, wo Problemlösungs- und Steuerungsressourcen auf
unterschiedliche Akteure und unterschiedliche Handlungsebenen
verteilt sind und deshalb zusammengeführt werden müssen.
Er sollte als demokratisch legitimierter Akteur aber nicht nur auf
Initiativen handlungsmächtiger privater Akteure diesseits und
jenseits seiner Grenzen re-agieren: Zöge er sich
ausschließlich auf seine Moderatorenrolle zurück,
überließe er den jeweils handlungsmächtigsten
Privatakteuren das Feld – die Folge wäre ein
Substanzverlust der Demokratie.
Der Staat ist und bleibt die einzige Institution
der Gesellschaft, die Verantwortung für das
„Ganze“ und das (wenn auch immer umstrittene)
„Gemeinwohl“ trägt. Das Konzept des demokratischen
Rechtstaates kommt ohne den normativen Bezug auf das Gemeinwohl
nicht aus. Trotz aller Differenzierungs- und Entgrenzungtrends wird
der Staat nicht aus seiner Gesamtverantwortung entlassen, denn es
ist kein funktionales Äquivalent in Sicht, dass diese Aufgabe
übernehmen könnte. Der Nationalstaat wird zwar in
horizontale und vertikale Netzwerke eingebunden und gegenüber
internationalen Regelwerken sowie Gerichtsbarkeiten
rechenschaftspflichtig – aber er bleibt, ausgestattet mit dem
Gewaltmonopol, mehr als nur ein „primus inter
pares“.
Einige Reformen sind notwendig, um das deutsche
politische System „Global
Governance-tauglich“ weiterzuentwickeln und Gefahren zu
begegnen, die manche „Globalisierungskritiker“ schon
veranlassten, die „Ohnmacht des Staates“ zu beklagen
(vgl. Koch 1995).18
15 Diskutiert wurde dies zum Beispiel auf der Reihe von
Konferenzen „Modernes Regieren – Modern
Governance“. In deren 2002er Stockholmer Kommuniqué
heißt es: „Nur durch Kooperation werden die
Nationalstaaten in der Lage sein, eine effiziente politische
Handlungsfähigkeit auf einer wachsenden Zahl wichtiger Gebiete
wiederzugewinnen“ (http://www.progressive.gov.se/files/
Communiquegerman. pdf 30. April 2002).
16 Vgl. zum Formwandel des Staates durch Globalisierung
das ausführliche Gutachten von Messner (2001b).
17 Vgl. auch BMZ (2002a) zu „Good Governance in
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit“. Auch die
Zivilgesellschaft kann dabei eine Rolle spielen, vgl. den BT-Antrag
der Fraktionen der SPD sowie Bündnis 90/Die Grünen
„Förderung der Zivilgesellschaft im Norden und im
Süden – eine Herausforderung für die
Entwicklungszusammenarbeit“ (BT-Drs. 14/5789) (Deutscher
Bundestag 2001g) und die Beiträge in FES (2001).
18 Das Gutachten von Messner (2001b) geht auf
verschiedene Aktionsfelder ein: Auf der Mikroebene der Akteure des
politischen Systems müssen Global Governance-Kompetenzen
gestärkt werden. Auf der Makroebene des politischen Systems
geraten organisatorisch-institutionelle Strukturen unter
Innovationsdruck. Auf der Metaebene des politischen Systems
müssen neue Leitbilder und eine strategische Orientierung in
Richtung
Global Governance entwickelt werden. Ein viertes Aktionsfeld
thematisiert „Wissen als zentrale Machtressource
globalisierungstauglicher Politik“.
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