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Erich Roeper
Eine Gesellschaft vor Gericht
Große Prozessberichte aus dem Deutschland
der Nachkriegszeit
Gerichtsberichte haben ihr Publikum, zumal die
von herausragenden Justiz- und Kriminalreportern wie den 2003
verstorbenen Gerhard Mauz. Von 1964 bis 1990 schrieb er im
"Spiegel". Die Nachfolgerin widmet ihm dieses Buch mit 35
Berichten. "Die Gerichtsreportage", so Gisela Friedrichsen im
Vorwort, "eines der traditionellen Genres des Journalismus, reicht
als literarische Form weit in die Vergangenheit zurück".
Genannt sei im Schiller-Jahr dessen "Pivatal", merkwürdige
Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit.
"Immer schon interessierten sich die Menschen vor allem für
das, was andere Menschen einander antaten, und wozu der Mensch,
also auch man selbst, fähig ist, im Guten wie im
Bösen."
Das Buch bringt Prozessberichte zu
NS-Verbrechen, den 68er-Jahren und der RAF sowie große
Kriminalfälle. Die zwei ersten Berichte - Mauz begann damit
beim "Spiegel" - gelten dem Auschwitz-Prozess, den er als
Referendar erlebte. Schon die Überschrift "Wer im Saal ist,
hat überlebt" zeigt die Unmenschlichkeit des Mordens. Die
"Variationen des Schreckens" seien nicht ehrlich aufgearbeitet;
daher fragt Mauz zum Majdanek-Prozess, "was haben wir
gelernt?"
Deutlich ist auch der Bericht über den
in den NS-Staat verstrickten Bundeskanzler Kiesinger als Zeuge in
einer NS-Sache. Die wenigen ergebnislosen Prozesse gegen hohe
NS-Richter sind umso bedrückender angesichts der Verfahren
gegen DDR-Täter nach 1990. Bis in höchste Stellen entzog
sich die Generation der Verantwortung. Nur ein Jura-Professor
verlor den Lehrstuhl, doch wird Carl Schmitt weiter verlegt und
zitiert; Theodor Maunz, ironischer als "wunderbarer Wegbegleiter
der DVU" bezeichnet, gibt einem Grundgesetz-Kommentar den Namen; er
sollte, anders als Mauz meint, getilgt werden, denn welcher Student
weiß um die Haltung des CSU-Ministers.
Auch der zweite Teil ist voll Brisanz. Die
Anschläge der RAF führten zu Verschärfungen im
Straf- und Strafprozessrecht, die noch heute den Rechtsstaat
verdunkeln. Was hätte Mauz wohl zu den Folgen des 11.September
2001 gesagt? Er zeigt eine in NS-Nachfolge geprägte Justiz,
die weder fertig wurde mit Fritz Teufels Witz ("wenns der
Wahrheitsfindung dient") noch den Straßenbahnblockierern oder
verqueren Ideen der Baaders und Meinhofs. So war auch Rudi Dutschke
nicht nur für Bachmann, den Attentäter, ein
"Umstürzler, Gewaltapostel, Kommunist, Erzfeind".
Daneben stehen als Beispiele mehrere
Kriminalfälle: Vera Brühne, Jürgen Bartsch, Monika
Weimar sahen viele im Fernsehen. Doch wer denkt an den Freispruch
des zu Unrecht angeklagten Johann Lettenbauer, das mehrfach
gescheiterte Mariotti-Verfahren, das gegen Marianne Bachmeier, die
den Mörder ihrer Tochter im Gericht erschoss? Bekannt sind die
Prozesse gegen den Frauenarzt Theissen in Memmingen wegen
Abtreibungen, das Verfahren wegen der Hitler-Tagebücher, gegen
den Mann, der auf Schäuble schoss, oder die Brandstifter von
Solingen. Wichtig zur Glaubwürdigkeit jugendlicher Zeugen sind
die Berichte zum Montessori-Prozess, in dem Mauz aus der
Reporterrolle trat und gutachtend für den Angeklagten wirkte -
als "mitleidender Beobachter", so Rudolf Augstein, "kein Mann der
distanzierten Darstellung eines Tathergangs".
Für Thomas Flemming und Bernd Ulrich,
Historiker und Publizisten, sind 45 Jahre Prozesse in West und Ost
Schlaglichter auf die Gesellschaft beider deutscher Staaten. Die
Wirkung vergleichen sie mit denen der Französischen Revolution
gegen Ludwig XVI., der Reaktionäre gegen Alfred Dreyfus oder
den Nürnberger Prozessen. Themen sind Vera Brühne (die
sittliche Rigidität der bleiernen 50er-Jahre erregt noch
heute), der Kindermörder Bartsch, Baader-Meinhof-Prozess,
Memminger Abtreibungsprozess, Auschwitz-Prozess, die offene
Ausländerfeindlichkeit der Brandanschläge in Mölln
und Solingen, als deren Exekutoren die Angeklagten sich
sahen.
Politisch motiviert gewesen sei im Westen das
Verfahren gegen Otto John, beteiligt am Aufstand des 20. Juli,
später oberster Verfassungsschützer, der wegen der
Wiederaufrüstung in die DDR floh und den - zurückgekehrt
- ein Ex-Wehrmachtsrichter zu vier Jahren verurteilte, das
KPD-Verbot und das politische Strafrecht des Kalten Krieges. Der
Auschwitz-Prozess hätte Läuterung sein können; aber
erst die SPIEGEL-Affäre ("ein Abgrund von Landesverrat")
läutete Adenauers Ende ein, bereitete die erste große
Koalition vor und führte zu Willy Brandts
Kanzlerschaft.
Viele Verfahren repressiver Art gab es in der
DDR, so 1950 in Waldheim gegen 3.452 von Moskau überstellte
kleine und größere NS-Täter, die meist nach
fünf Jahren entlassen wurden. Berlins Kammergericht nannte die
Schauprozesse 1954 "absolut und unheilbar nichtig" - es gilt
für die NS-Unrechtsurteile, meist zum Tod, erst seit 1998. Die
SED-Herrschaft sicherten massenhafte Schauprozesse nach dem
Volksaufstand am 17. Juni 1953, ebenso die Verfahren gegen die
Harich-Janko-Gruppe 1957 und noch 1988 gegen Stefan Krawczyk. Sie
verhinderten jede Reform und gaben dem Sozialismus sein
hässliches Gesicht. Am Ende stand 1992/93 der Prozess gegen
Erich Honecker.
Prozesse prägen die Geschichte. Ob alle
geschilderten Verfahren die Qualität haben, mag bezweifelt
werden. Wer erinnert sich noch an das Mädchen Nitribitt und
parallel in London an Profumos Sturz? Hätten andere Urteile
gewählt werden müssen, des Bundesverfassungsgerichts zu
Datenschutz, Ostverträgen oder den Enteignungen 1945/49, des
Bundessozialgerichts zur Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure,
des Bundesgerichtshofs zu Ehrenmorden, die E 605-Prozesse oder des
Bundesverwaltungsgerichts zum Stuttgarter Kopftuchgesetz? Jede
Auswahl ist ein Teil des Ganzen, das jeder anders sieht. Auch die
Sicht der Autoren macht Sinn. So verleiten beide Bücher zum
Lesen und Weiterdenken.
Die großen Prozesse der Bundesrepublik
Deutschland.
Hrsg. von Gisela
Friedrichsen.
zu Klampen Verlag, Springe 2005; 240 S.,
19,80 Euro
Thomas Flemming/ Bernd Ulrich
Vor Gericht.
Deutsche Prozesse in Ost und West nach
1945.
be.bra-Verlag, Berlin 2005; 224 S., 19,90
Euro
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