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Janis Krastins
Koffer packen Richtung Westen
Immer mehr Letten wandern in andere
EU-Länder aus
Ein rauher Wind treibt einzelne Schneeflocken durch die kalte
Novemberluft in der lettischen Hauptstadt Riga. Trotz der
Kälte haben sich hunderte Menschen am Freiheitsdenkmal
versammelt. Das Land feiert seinen 87. Geburtstag. Gegen 20 Uhr
richtet die Staatspräsidentin Vaira Vike Freiberga eine
Ansprache an die Menge. Sie spricht über das erhabene Denkmal,
das vor genau 70 Jahren eingeweiht wurde, und über die
Möglichkeit, den jungen Staat aufzubauen. "Alle sind gefragt,
die diesen Staat schätzen, es ist genug Platz für alle
da. Alle sind willkommen - sowohl die, die noch keine Bürger
sind, als auch die, die ins Ausland gefahren sind, um da besseres
Geld zu verdienen", sagt die Präsidentin und spricht damit ein
Thema an, das in den letzten Monaten in der Öffentlichkeit
immer stärker diskutiert wird.
Die genaue Zahl der Auswanderer kennt niedmand, aber seit dem
EU-Beitritt 2004 haben schätzungsweise 50.000 bis 100.000
Bürger Lettlands ihrem Staat den Rücken gekehrt - bei
gerade einmal 2,3 Millionen Einwohnern eine beträchtliche
Zahl. Es zieht sie vor allem nach Irland und Großbritanien -
zwei der wenigen Staaten der EU, die ihre Arbeitsmärkte
für die "neuen Europäer" ohne Übergangsfristen
geöffnet haben.
Der größte Verlierer ist dabei der Arbeitsmarkt in
Lettland - die Wirtschaft wächst, die Einwohnerzahl sinkt und
es entsteht ein Mangel an Arbeitskräften. So verschieden die
Auswanderer auch sind, die Gründe für ihren Weggang sind
oftmals ähnlich. Da das Leben in Lettland keine Chance bietet,
für die Familie oder sich selbst angemessen zu sorgen,
entscheiden sich immer mehr für eine Reise ins Ungewisse.
Gerade finanziell lohnt sich der Schritt in Richtung Westen: In
Lettland beträgt der gesetzliche Mindestlohn 80 Lats (115
Euro) pro Monat, in Irland verdient ein Arbeiter dieses Geld in der
Landwirtschaft in zwei Tagen.
Lettland erlebt zurzeit die größte Emigrationswelle in
seiner Geschichte, nicht einmal zu Kriegszeiten haben mehr Menschen
das Land verlassen."Ich bin weggefahren als ich 21 Jahre alt war,
das Leben erschien mir sinnlos. Ich hatte eine Arbeit, aber kein
Geld. Ich habe das Studium unterbrochen, weil ich die
Studiengebühren nicht mehr bezahlen konnte", erzählt die
junge Inga der lettischen Tageszeitung Diena. Sie arbeitet seit
fünf Jahren in Irland, an Rückkehr denkt sie nicht. In
Lettland hat sie zwölf Stunden pro Tag gearbeitet, gereicht
hat das Geld nur für das Essen.
Laut Statistik sind die Preise in Lettland in den letzten
fünf Jahren um 25 Prozent gestiegen. Obwohl die Löhne
bereits deutlich gewachsen sind, verdient ein Lette nur 12 Prozent
des Europäischen Durchschnittslohns. "Die Emigration ist in
erster Linie ein Problem für die Regierung und die
Arbeitgeber. Für die Auswanderer bedeutet sie eine Lösung
der eigenen Probleme", meint der Wirtschaftexperte Roberts Remess.
Die Politiker haben seiner Meinung nach aber das Problem erst jetzt
erkannt - eine Lösung ist hingegen nicht in Sicht.
"Es geht nur um das Gehalt, die Menschen wollen leben", nennt
die Ministerin für Wohlfahrt Dagnija Stake den wichtigsten
Grund für die Auswanderung. Man könne ja den Arbeitgebern
die Gehälter nicht vorschreiben, heißt es aus dem
Ministerium.
Vielerorts macht sich Hoffnungslosigkeit breit. Die Politiker
haben einem der Gründe für die niedrigen Löhne, der
hohen Inflation, den Kampf angesagt - bisher jedoch ohne Erfolg.
"Die Menschen glauben nicht mehr an die Regierung, sie nehmen das
Leben in die eigene Hand und verlassen das Land", meint der
Soziologe Aigars Freimanis.
Sollte sich an der "Fluchtwelle" nichts ändern, werden auch
die Arbeitgeber das schmerzhaft zu spüren bekommen. Die
Wirtschaft boomt, das Wachstum ist mit knapp 10 Prozent
europäischer Spitzenwert. In einigen Bereichen denkt man aber
bereits daran, Gastarbeiter aus der Ukraine oder Weißrussland
anzuheuern.
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird sich in den nächsten
Jahren noch weiter zuspitzen - laut Prognosen muss Lettland mit dem
stärksten Rückgang der Einwohnerzahl in der ganzen EU
rechnen.
Dabei spielt auch die niedrige Geburtenrate eine wichtige Rolle.
Leben heute in Lettland knapp 2,3 Millionen Einwohner, werden es
2050 nur noch 1,8 Millionen sein. Auf EU-Ebene hat man die
Auswanderung nie als ernsthaftes Problem für die
Arbeitsmärkte betrachtet. Stattdessen wurden die von vielen
Beitrittsstaaten als diskriminierend empfundenen
Übergangsfristen für die Öffnung der
Arbeitsmärkte kritisiert. Gelingt es jedoch nicht, eigene gut
ausgebildete und motivierte Arbeitnehmer im Land zu halten, droht
der "baltische Tiger" durch Auszehrung an Sprungkraft zu
verlieren.
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