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Sandra Schmid
Verhandeln auf gleicher Augenhöhe
Beim Schülergericht urteilen Jugendliche
über junge Straffällige
Christian* wollte nur mit dem Elektroroller eine Runde auf dem
Hof drehen: Er machte gerade einen kleinen Schlenker auf die
Straße, um umzukehren, als die Polizei kam. Für Christian
ein Problem: Er war erst 14 und hatte keinen Führerschein.
Julia* wurde beim Klauen erwischt. Als die 15-Jährige
einige Duftkerzen und Räucherstäbchen in die Tasche
steckte, ertappte sie der Kaufhausdetektiv und rief die
Polizei.
Während solche leichten bis mittelschweren Delikte von
Jugendlichen normalerweise vor dem Jugendgericht verhandelt werden,
hatten Christian und Julia die Wahl zwischen dem üblichen
Strafverfahren und der Teilnahme am Schülergremium
"Wellenbrecher". So heißt das erste Schülergericht
Deutschlands, das vor fast genau fünf Jahren im bayerischen
Aschaffenburg gegründet wurde, um im Pilotversuch Jugendliche
über gleichaltrige Straftäter urteilen zu lassen. Die
entscheidende Vorraussetzung dafür, dass die Fälle hier
verhandelt werden und nicht vor dem Jugendgericht, ist, dass die
Täter bereit sind, ehrlich über ihre Tat zu sprechen.
Christian und Julia waren das. So landeten ihre Fälle auf dem
Tisch der Aschaffenburger Schülerrichter - wie übrigens
viele andere: Mit ungefähr 70 solcher Fälle
beschäftigt sich das Gremium pro Jahr. Darunter sind neben
Diebstahl und Fahren ohne Führerschein auch Delikte wie
Betrug, Urkundenfälschung oder Drogenkonsum. Die Verhandlung
führen die 14- bis 18-jährigen Richter
selbstständig. Das Schülergremium besteht immer aus drei
Jugendlichen. Die Sozialpädagogin Birgit Naumann, die das
Projekt "Wellenbrecher" seit einem Jahr leitet, assistiert ihnen
nur bei der Urteilsfindung. In der Verhandlung selbst hält
sich die 35-Jährige strikt zurück. Schließlich
sollen hier Richter und Delinquent auf gleicher Augenhöhe
verhandeln. "Es war das Ziel des Projekts, zu testen, wie
jugendliche Straffällige auf das Urteil jugendlicher Richter
reagieren", erklärt Birgit Naumann. Die Vermutung war, dass
Jugendliche Ratschläge von Gleichaltrigen eher akzeptieren als
von Erwachsenen. Diese Annahme scheint sich bestätigt zu
haben: Die Rückfallquote der vor dem Schülergremium
verhandelten Fälle ist niedriger als üblich: Eine erste
Zwischenauswertung aus dem Jahr 2003 zeigte, nur fünf Prozent
der dort "Verurteilten" wurden wieder straffällig. Ohne
Schülergremium waren es 15 Prozent Rückfallquote. Auch
wenn die wissenschaftliche Auswertung erst Ende 2006 erscheint -
das Projekt "Wellenbrecher" gilt in Bayern schon jetzt als Erfolg:
Weitere Schülergerichte sind hier in den letzten Jahren
eingerichtet worden und auch andere Bundesländer ziehen
nach.
Den Anstoß dazu gab im Jahr 2000 das bayerische
Justizministerium, das die amerikanische Einrichtung der so
genannten Teen Courts im eigenen Land testen wollte. Unter
wissenschaftlicher Begleitung des Kriminologen Heinz Schöch
von der Universität München wurde das Projekt
"Wellenbrecher" noch im selben Jahr in Aschaffenburg realisiert.
Hier arbeiten seitdem der "Verein Hilfe zur Selbsthilfe", der die
Organisation übernommen hat, Polizei, Staatsanwaltschaft und
Schulen eng verzahnt zusammen. Gymnasien, Real- und Hauptschulen
kommt die Schlüsselrolle zu, immer wieder Jugendliche zwischen
14 und 16 Jahren für die ehrenamtliche Arbeit als
Schülerrichter zu gewinnen: Wichtig ist, dass Jugendliche aus
allen Schulformen dabei sind. Wenn da unter den Straffälligen
viele Hauptschüler sind, soll diese "Mischung" helfen, dass
Täter und Richter wirklich auf gleicher Ebene miteinander
sprechen. Für die Aufgabe des Schülerrichters kommt nur
in Frage, wer keine Vorstrafen und ein "gefestigtes
Sozialverhalten" hat. "Doch auch gute Noten sind wichtig", sagt
Birgit Naumann. Der Zeitaufwand ist nämlich nicht zu
unterschätzen: Bis zu drei Stunden in der Woche müssen
die jugendlichen Richter einplanen, und das mindestens ein Jahr
lang.
Alex Faust ist seit über eineinhalb Jahren Mitglied im
Schülergremium. Der 18-jährige Gymnasiast interessierte
sich als Fan von Fernsehserien wie "Autopsy" längst für
Kriminalistik, besonders für Forensik, als seine BWL-Lehrerin
ihm vorschlug, bei "Wellenbrecher" mitzumachen. Alex sagte ja. Es
reizte ihn zu verstehen, warum Gleichaltrige zu Straftätern
werden. Mittlerweile hat er eine Reihe kurioser Fälle erlebt:
"Das schult einen", sagt Alex. "Man gewinnt ein großes
Stück Menschenkenntnis dazu." Doch bevor er seine erste
Verhandlung führen konnte, musste er eine rund
20-stündige Schulung absolvieren: Ein Staatsanwalt
erklärte die Straftatbestände, die Polizei gewährte
Einblicke in ihren Alltag, und die Sozialpädagogin Birgit
Naumann lehrte in Rollenspielen, wie die Gespräche mit den
Straftätern zu führen sind. Wichtig ist vor allem der
Augenkontakt. Suggestivfragen und Ratschläge müssen
dagegen vermieden werden. Schwierig und manchmal auch unangenehm
wird es, wenn ein Täter anders reagiert, als erwartet. Aber
auch für so eine Situation gibt es Techniken: "Wenn jemand
weint", erklärt Alex, "wechseln wir schnell das Thema."
Die Schülerrichter versuchen herauszufinden, wie es zu der
Tat kam und was dahinter steckte. So individuell wie die Ursachen
der Vergehen, so individuell und kreativ sind auch die Strafen, die
die Schülerrichter verhängen: Mit den üblichen
Sozialstunden lassen sie es meistens nicht bewenden. Lieber
überlegen die Schülerrichter sich Sanktionen, die zum
Nachdenken anregen oder auch empfindlich schmerzen: Julia musste
eine Collage basteln, die zeigte, wie sie künftig auch ohne
Geld ihrem Freund ein Geschenk machen kann. Christian hingegen
schrieb einen Aufsatz darüber, welche Folgen sein falsches
Verhalten im Straßenverkehr hätte haben können.
* Die Namen wurden geändert.
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