Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 20 / 15.05.2006
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Jeannette Goddar

Sieg um jeden Preis

Sport fördert nicht nur Fairness

Wenn die Welt zu Gast bei Freunden ist, wird sich nicht nur in den großen Stadien alles um den Ball drehen. Wie groß die Fußballbegeisterung in Deutschland ist, macht sich nicht nur an bis zu 30 Millionen Fernsehzuschauern bei den Finalspielen internationaler Meisterschaften fest - sondern auch an denen, die tatsächlich kicken: Mehr als sechs Millionen Menschen in Deutschland sind Mitglieder im Deutschen Fußball-Bund; Hunderttausende spielen außerverbandlich.

Gäbe es den Fußball nicht, sähe die Statistik des Deutschen Sportbundes längst nicht so rosig aus. Während alle anderen Organisationen über Mitgliederschwund klagen, verzeichnen die Sportvereine in jedem Jahr mehr Zulauf. 77 Prozent aller 7- bis 14-jährigen Jungen in Deutschland sind Mitglieder im Sportverein; 60 Prozent der 15- bis 18-jährigen Jungen. Danach, mit Erreichen der Volljährigkeit, dem Auszug von Zuhause und womöglich dem Umzug in eine andere Stadt, halbiert sich die Zahl nahezu.

Kaum irgendwo ist also die Gelegenheit, an Kinder und Jugendliche heranzukommen, so günstig wie im Sportverein. Dementsprechend groß sind auch die Erwartungen, die in die tausende Vereine gesetzt werden: Sport, so die gängige These, holt die Kids von der Straße und ist nicht nur eine sinnvolle Beschäftigung, sondern auch gut gegen jedes Ungemach, das sonst so droht: Alkohol- und Drogenmissbrauch, den Hang zu Gewaltausbrüchen, das Abrutschen in die Kriminalität, die Tendenz zum Rechtsextremismus. Weil, so geht die Argumentation meist weiter, Sport multikulturell ist und keine Grenzen kennt, Frust und Aggressionen abbaut und das gemeinsame Spiel zu Fairness und Solidarität erzieht.

Leider stimmt das so nicht. "Sport ist kein Allheilmittel gegen Gewalt und unfaires Verhalten", sagt Wolf-Dietrich Brettschneider, selbst ehemaliger Leis-tungssportler und seit Jahren einer der führenden Sportwissenschaftler der Republik. Jetzt hat er eine Studie unter dem Titel "Sportpartizipation und Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen" vorgelegt, die 3.500 Jugendliche in Deutschland und 2.700 in Israel genauer unter die Lupe nimmt. Er hat Jugendliche in drei Gruppen eingeteilt - in die "Sportmuffel", die "Freizeitsportler" und die "hoch aktiven Sportler" - und festgestellt: "Der Zusammenhang zwischen jugendlichem Sportengagement und Gewaltbereitschaft ist gleich null." Und, noch schlimmer: Die einzige - allerdings statistisch nicht repräsentative - Korrelation ergibt, dass Jungen, die entweder Kampf- oder Mannschaftssport treiben, sogar eher die Neigung haben, Gewalt als probates Mittel zu akzeptieren als ihre unsportlichen Gleichaltrigen.

Überrascht hat das Brettschneider weniger als die allgemeine Öffentlichkeit: In einer Untersuchung für das nordrhein-westfälische Kultusministerium räumte er bereits vor einigen Jahren mit so manchem Vorurteil über Jugendarbeit in Sportvereinen auf. Weder konnte er damals nachweisen, dass jugendliche Vereinssportler emotional stabiler oder stressresistenter sind noch, dass sie stärker zu Abstinenz neigen: "Nirgendwo wird so viel geraucht und getrunken wie im Fußball und Handball", sagt Brettschneider; zur typischen Vereinskarriere gehörten im Allgemeinen nicht zwei, sondern drei Halbzeiten: "Die Dritte besteht aus Rauchen und Trinken."

Der Paderborner Wissenschaftler ist aber nicht der einzige, der sich mit den Mythen beschäftigt, die sich um den Vereinssport ranken. Sein Hannoveraner Kollege Gunter Pilz, Deutschlands führender Forscher in Sachen Fußball, Gewalt und Hooliganismus, beobachtet, dass Sport treiben keineswegs automatisch Toleranz und Wertebewusstsein vermittle. Stattdessen attestiert Pilz gerade dem Fußball zuweilen geradezu einen "Kult der Gewalt", und das nicht nur auf den Rängen: "Ganze Mannschaften mussten schon den Spielbetrieb einstellen", stellt Pilz fest. "Die Gewaltbereitschaft auch in den Vereinen stellt ein nicht zu unterschätzendes Problem dar."

Als zentrale Figuren dabei hat Pilz einerseits die Eltern, andererseits den Trainer ausgemacht: Es gäbe Fälle, in denen die Kinder von ihren Eltern am Spielfeldrand geradezu aufgerufen würden, den Gegner niederzutreten. Aber auch Trainer, die ihre Gelegenheit nicht nutzen, dem Spieler beizubringen, dass es nicht nur um Sieg geht.

Fußball wie auch andere Sportarten, stellt die Sportsoziologie fest, fördert eben unter Umständen nicht nur den Anstand, sondern auch die Aggression, nicht nur Fairness, sondern auch den unbedingten Willen zum Sieg. Und um das zu moderieren, gerade in sozial schwierigen Gegenden, braucht es entweder Naturtalente - oder hoch gebildete Jugendsportarbeiter.

Tausende Trainer, auf die der DFB bundesweit angewiesen ist und die ihre Zeit dem Nachwuchs opfern, sind aber keine Experten in der Erziehung von Jugendlichen, sondern Ehrenamtliche, ohne deren Engagement in den Vereinen gar nichts ginge. Meist nach Abschluss einer eigenen Kickerlaufbahn absolvieren sie einen Übungsleiterschein, dessen Schwerpunkt nicht in der Gewaltprävention, sondern im Trainingsaufbau liegt.

"Wir bemühen uns, die psychologische Schulung der Trainer voranzubringen", sagt Harald Pieper, Leiter des Deutschen Sportbundes. "Immer mehr Vereine haben erkannt, dass es da hapert. Aber: Der Sportverein ist nicht der Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Das ist nicht seine Aufgabe. Und das überfordert ihn."

Das sieht auch Brettschneider so: "Das Sammelsurium an sozialen und pädagogischen Zusatzleistungen, die die Vereine erbringen sollen, ist absurd." Fußballtrainer seien Fußballtrainer und Sozialarbeiter Sozialarbeiter. "Wenn letztere angesichts auffälliger Jugendlicher benötigt werden, muss man sie einstellen." Pilz fordert eine stärkere Verzahnung von Sport und Sozialarbeit: Sportprojekte für schwierige Jugendliche seien in aller Regel erfolgreich, wenn sie mit qualifiziertem Personal arbeiteten, unabhängig davon, ob es sich dabei um Fußball, Boxen oder Klettern handele.

Ist der Sportverein also zu gar nichts gut? Doch, stellt auch die aktuelle Brettschneider-Studie fest: Vereinssport sei beliebt, ein wesentlicher Freizeitfaktor und immer noch in gewissem Maße ein Hort der Integration für Jugendliche. Erfreulich sei außerdem, dass Sport aus dem Alltag vieler Jugendlicher "gar nicht wegzudenken" sei. Und auch sonst verweist die Studie auf einige positive Effekte: Wer Sport treibt, hat ein besseres Körper- und höheres Selbstwertgefühl und kommt meist auch besser mit seinen Eltern und Freunden zurecht.

Dass Bewegung für Kinder und Jugendliche absolut unerlässlich ist, und zwar täglich, ist ohnehin Konsens. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist schon im Grundschulalter übergewichtig. Die motorischen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland verschlechtern sich seit Jahren katastrophal.

Ein bundesweiter Bewegungs-Check-Up der Initiative "Fit sein macht Schule" von AOK, Deutschem Sportbund und des Wissenschaftlichen Instituts der Ärzte (WIAD) von 2003 kommt zu dem Ergebnis, dass die Fitness von Zehn- bis 14-Jährigen seit 1995 um mehr als 20 Prozent zurückgegangen ist. Vor allem im Bereich der Koordination sowie in der Ausdauer wurden Verschlechterungen gemessen.

Bewegung ist aber nicht nur für Körper und Motorik unerlässlich, sondern auch für den Geist: "Wenn Kinder sich nicht austoben, verkümmern sie, und das auch noch, ohne es zu merken", sagt Brettschneider. "Eine immer größere Gruppe in Deutschland ist fett, faul und unfit, ohne dass es in den Familien jemand wahrnimmt." Was bleibt, ist die Erkenntnis: Sport muss sein - und kann doch nicht alles.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.