18 Monate lang ging es in Niedersachsens Schulpolitik zu wie auf einer Großbaustelle - vor wenigen Wochen starteten die rund 3.700 Schulen des Landes auf einem durch die Schulstrukturreform der CDU/FDP-Landesregierung völlig neugestalteten Fundament. "Wir werden das Land aus der Abstiegszone herausholen", hatte Christian Wulff im Wahlkampf nach 13 Jahren SPD-Regierung versprochen. Ein ehrgeiziges Ziel, zumal im Sommer 2002 die PISA II-Studie Niedersachsens Schulqualität im unteren Drittel verortet hatte. "Strukturelle Unterfinanzierung, Beliebigkeit von Lerninhalten und ein am ideologischen Wunschdenken orientiertes Einheitsschul-Konzept, das der Unterschiedlichkeit von Begabungen nicht gerecht wird", sind für Kultusminister Bernd Busemann (CDU) rückblickend Ursachen des schulpolitischen Versagens.
Mit dem Machtwechsel im Februar 2003 verknüpften Eltern, Lehrer und nicht zuletzt Schüler daher hohe Erwartungen. Gerade eine Woche war die neue christlich-liberale Landesregierung im Amt, da wurde mit einem neuen Schulgesetz schon ein umfassender Kurswechsel eingeleitet, der auf Abbau des Unterrichtsausfalls sowie eine nachhaltige Qualitätssteigerung abzielte. Bereits zum Schuljahr 2003/04 wurden für über 100 Millionen Euro 2.500 neue Lehrer eingestellt, die Unterrichtsversorgung stieg auf nahezu 100 Prozent. Im zweiten Schritt wurde die Schulstrukturreform in Angriff genommen. Ziel der Koalitionspartner war es, ein leistungsfähiges, durchlässiges und wohnortnahes, gegliedertes Schulsystem zu schaffen. Gesetzlich festgeschrieben und umgesetzt wurden:
- Individuelle Förderung bereits im Kindergarten, unter anderem durch Sprachförderung sowie durch eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule.
- Stärkung der individuellen Förderung: Für alle Schüler von Klasse 1 bis 10 wird künftig von den Lehrern ein individueller Förderplan geführt, der besondere Begabungen, aber auch Defizite ausweist.
- Abschaffung der Orientierungsstufe und Stärkung der Grundschule: Seit diesem Schuljahr besuchen alle Schüler weiterführende Schulen ab Klasse 5.
- Stärkung und gesetzlich garantierte Durchlässigkeit des gegliederten Schulwesens: Bisherige Gesamtschulen haben Bestandsschutz, müssen sich allerdings in der Konkurrenz zu anderen Schularten bewähren. Neue Gesamtschulen werden nicht errichtet. Die Grundschulen geben am Ende der Klasse 4 eine Schullaufbahnempfehlung ab, über die Schulwahl entscheiden die Eltern. Damit deren Wahl keine Einbahnstraße ist, haben Schüler erstmals qua Gesetz bei entsprechenden Leistungen das Recht, in eine höhere Schulform zu wechseln.
- Unterrichtsangebote werden intensiviert durch früheren Beginn der ersten und zweiten Fremdsprache, eine Stärkung der Naturwissenschaften, die Erhöhung der Pflichtstundenzahl an der Grundschule sowie die geplante Reform der gymnasialen Oberstufe.
- Eine klarere Profilierung der Hauptschule unter anderem durch 60 bis 80 Praxistage in Betrieben, die verstärkt auf eine Berufsausbildung vorbereiten. Hauptschulen werden vorrangig mit Ganztagsangeboten ausgestattet. Ziel der Landesregierung: Die Hauptschule soll das "Restschulen"-Image verlieren.
- Abitur nach zwölf statt bislang 13 Jahren wie bereits in sieben anderen Bundesländern.
- Ab 2006 wird das Zentralabitur eingeführt, ab 2007 landesweit einheitliche Abschlussprüfungen auch an Hauptschulen und Realschulen: Verbindliche, untereinander vergleichbare Abschlüsse wie in Bayern und Baden-Württemberg sollen auch in Niedersachsen klare Leistungsmaßstäbe setzen.
"Durchweg gut" sei die Resonanz auf die Veränderungen gewesen, erklärte Kultusminister Busemann. Kein Schulträger habe eine Fristverlängerung zur Abschaffung der Orientierungsstufe beantragt. Die Zahl der Schulstandorte - gerade im ländlichen Raum - sei gestiegen. Die Eltern hätten sich bei der Schulwahl für ihre Kinder im Großen und Ganzen sehr verantwortungsbewusst verhalten. Die 12.000 Orientierungsstufen-Lehrer seien reibungslos versetzt und die gleichzeitige Aufnahme dreier Jahrgänge an den weiterführenden Schulen jetzt im Sommer gut organisiert worden. "Dass wir diese Herkulesaufgaben unter tatkräftiger Mithilfe aller Beteiligten bewältigt haben, zeigt, dass unsere Reformen positiv eingeschätzt werden", so Busemann.
Grundlegende Forderungen seien "nach Jahren des schulpolitischen Verfalls" nun in hohem Maße erfüllt, befand der Vorsitzende des Philologenverbands Niedersachsen, Guillermo Spreckels. "Dass die Orientierungsstufe weggefallen ist, bekümmert niemanden. Mehr Unterricht und die höchste Zahl jemals vom Land beschäftigter Lehrer steigern die Qualität der Schulen im Land", kommentierte die "Neue Presse" und ernannte Busemann zum "Superschulminister".
Nachdem mit der Schulstrukturreform der organisatorische Rahmen neugestaltet wurde, wird nun eine Schulreform erarbeitet, die drei wesentliche Neuerungen vorsieht: Erstens sollen Bildungs- und Erziehungsziele klar definiert werden. Als Kompass dienen die von den Kultusministern der Länder Ende 2003 beschlossenen einheitlichen Bildungsstandards und Niedersachsens Kernlehrpläne. Auch die landesweiten Abschluss- und Vergleichsarbeiten werden sich daran ausrichten. Zweitens sollen Schulen und Lehrer mehr Verantwortung dafür tragen, dass alle Schüler die gesetzlich festgelegten Ziele erreichen. Qualitätssicherung und -entwicklung, Personalverantwortung und Unterrichtsorganisation übernehmen die Schulen, müssen jedoch künftig Rechenschaft ablegen. Drittens soll nach dem Vorbild der Niederlande ein Schul-TÜV in Bad Iburg entstehen, der den Schulen regelmäßig auf den Zahn fühlt. Das Kultusministerium erwartet von der Schulreform eine nachhaltige Steigerung der Bildungsqualität. "Wir werden dann auch bei Vergleichsuntersuchungen nicht mehr auf der Verliererseite stehen. Es gilt, die Zukunftschancen unserer Kinder und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern", betonte Minister Busemann.
Die SPD im Landtag nahm den kürzlich veröffentlichten OECD-Bildungsreport und dessen allgemeine Kritik an deutschen Schulen hingegen zum Anlass für einen Rundumschlag gegen die Bildungspolitik der Koalition. SPD-Fraktionschef Sigmar Gabriel forderte, die Bildungsinvestitionen durch Abschaffung der Eigenheimzulage zu steigern und bescheinigte dem Kultusminister, der den OECD-Bericht unter anderem aufgrund veralteter Daten kritisiert hatte, "seinen Beruf verfehlt" zu haben. Ein Stück weit entlud sich damit auch oppositionelle Hilflosigkeit: An Niedersachsens Schulen hat eine Revolution von oben stattgefunden, und niemand von unten hielt es für nötig, dagegen auf die Barrikaden zu gehen.