Leben und Sterben im Konzentrationslager
Nur wenige Überlebende des Naziregimes dürften sich einem derart intensiven Gespräch mit einem um Verständnis ringenden Nachgeborenen gestellt haben wie Ernst und Hilde Federn gegenüber dem Wiener Gymnasiallehrer Bernhard Kuschey. Unmittelbar nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald hatte sich Ernst Federn in einzelnen Artikeln alles von der Seele geschrieben. Doch Ende der 80er-Jahre lud er Kuschey ein, ihm als Fragesteller bei seiner Autobiografie behilflich zu sein. Herausgekommen ist ein voluminöses zweibändiges Werk mit Gesprächen, Tonbandaufzeichnungen und detaillierten Darstellungen und Analysen, in dem es nicht nur um das Leben der beiden Hauptpersonen Hilde und Ernst Federn und um Biografien anderer Menschen geht, sondern auch um Aufbau und Strukturen des nationalsozialistischen Machtapparates innerhalb der Konzentrationslager mit all seinen Begleiterscheinungen.
Der 1955 geborene Autor Kuschey, der, nach eigenem Bekunden, politisch durch die Studentenbewegung resozialisiert wurde, bekennt, den Lernprozess, der ihm durch die Gespräche mit dem Ehepaar Federn zuteil geworden sei, sehr genossen zu haben. Nebenbei hat Kuschey, um Anschluss an die Erfahrungswelt seiner Gesprächspartner zu gewinnen und um zu verstehen, wie Menschen unter schwierigsten Bedingungen leben und überleben konnten, ein intensives Textstudium zeitgenössischer, autobiografischer und wissenschaftlicher Literatur absolviert und die Werke von Raul Hilberg und Hannah Arendt, Berichte von Benedikt Kautsky und Eugen Kogon und viele weitere wissenschaftliche und lebensgeschichtliche Arbeiten, zum Beispiel von Jean Améry, Ian Kershaw, Bruno Bettelheim und Jorge Semprun, in seinen Text mit eingebunden.
Kuschey geht zunächst ausführlich auf die familiären, kulturellen und politischen Hintergründe seiner Protagonisten ein. So erfahren wir, dass Ernst Federn, Jahrgang 1914, aus einer assimilierten jüdischen Wiener Familie stammt und in seiner Jugend ein begeisterungsfähiger Aktivist trotzkistischer Prägung war. Seine spätere Frau, Hilde Paar, Jahrgang 1910, kam aus einer "gemischten" Familie und war ebenfalls politisch engagiert. Just an dem Tag, nämlich am 14. März 1938, an dem beide das Aufgebot bestellen wollten, wurde Ernst Federn von den kurz zuvor in Österreich einmarschierten Nazis verhaftet. Die Heirat konnte erst neun Jahre später in Brüssel stattfinden.
Nach vier Monaten Haft in Dachau wurde Ernst Federn im September 1938 in das KZ Buchenwald eingeliefert. Anfangs hatten ihn die Nazis in erster Linie als Regimegegner und politischen Feind im Visier gehabt. Erst im Konzentrationslager wurde er als Jude wahrgenommen und erniedrigt. Er wurde gefoltert und gequält. Gleichwohl hat ihn die SS 1941 als noch kräftigen Häftling nicht, wie es in deren inhumanem Jargon hieß, als "Ballastexistenz" definiert und zur "Beseitigung" bestimmt.
Hilde Federn entging dagegen als "nur jüdisch versippte" Frau der Vernichtung. Von Wien aus versuchte sie, ihrem Mann zu helfen. Nach Ernst Federns Befreiung schiffte sich das Ehepaar im Januar 1948 in Rotterdam nach Amerika ein, kehrte aber 1972 wieder nach Wien zurück. Hier arbeitete Ernst Federn neben anderen Berufen als Sozialpsychologe in der Bewährungshilfe und im reformierten Strafvollzug.
Kuschey stellt den Überlebenskampf Ernst Federns gegen den Nazi-Terror aus historischer, soziologischer und psychologischer Perspektive in aller Breite dar. Er geht der Entstehung, dem Aufbau und der Formierung der Strukturen des Terrors minuziös nach und analysiert stringent Genese und Funktionsweise des KZ-Systems, wobei sich nach und nach ein genaues Bild der terroristischen Vergesellschaftung im KZ-System herauskristallisiert. Man erfährt eine Menge über den Lageralltag, über die Macht der Funktionshäftlinge, den Überlebenskampf im KZ und die Rolle der Gewalt unter den Häftlingen, ebenso von den Auswirkungen des Krieges auf die Machtverhältnisse in der Lagergesellschaft. Der Autor schiebt unter anderem einen Exkurs über Bedeutung und Form von Sexualität im KZ ein und bringt vieles zur Sprache: das Chaos gegen Ende des Krieges, Todesmärsche, Flucht der SS und Befreiung der Häftlinge. Kuschey beleuchtet ferner die inneren und äußeren Schwierigkeiten der Eingliederung ehemaliger Häftlinge in die Nachkriegsgesellschaft, mit denen auch Ernst Federn zu kämpfen hatte. Kurzum, er lotet die außergewöhnlichen Erlebnisse seiner Protagonisten auf zahlreichen Ebenen aus.
Die Bände zeugen von mühsamen Archiv- und Recherchearbeiten. Nicht wissenschaftlich interessierte Laien dürften indes nur wenig Geduld und Lust aufbringen, sich durch die detaillierten und teils auch ermüdenden Untersuchungen und Darstellungen durchzuarbeiten, obwohl manches durchaus spannend, ja mitunter sogar aufrüttelnd und erschütternd zu lesen ist, insbesondere, wenn Beteiligte zu Wort kommen. In ihrer Länge und Ausführlichkeit sind die Darlegungen fast erdrückend.
Gleichwohl ist das zweibändige Werke mit seinem breit angelegten Anhang eine gute Grundlage und eine wahre Fundgrube für künftige Dissertationen über ähnliche Themen.
Bernhard Kuschey
Die Ausnahme des Überlebens.
Ernst und Hilde Federn. Eine biographische Studie und eine Analyse der Binnenstrukturen des Konzentrationslagers.
Zwei Bände, edition psychosozial. Psychosozial-Verlag, Gießen 2003; 1082 S., 49,90 Euro