Partner oder Problemfall?
Dass sich hochkarätige Politiker - von EU-Kommissionspräsident Romano Prodi über CDU-Chefin Angela Merkel und Bundeskanzler Gerhard Schröder - in Ankara die Klinke in die Hand geben, hat einen guten Grund: Sie wollten sich vor Ort über den Fortschritt der Reformbemühungen der Türkei als Voraussetzung für Verhandlungen über einen EU-Beitritt informieren. Die EU-Kommission will Ende des Jahres entscheiden, ob die Zeit reif ist, um Gespräche mit der Türkei über einen Beitritt aufzunehmen.
Die durchaus reformorientierte Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erwartet vor allem von Berlin nachhaltige Unterstützung für ihr Vorhaben. Die Deutschen haben nie Zweifel daran gelassen, dass sie die Türken grundsätzlich willkommen heißen - als türkischstämmige Deutsche zum großen Teil mit Wahlberechtigung sind sie ohnedies schon seit Jahrzehnten hier. Ankara aber ist in jüngster Zeit irrritiert. Hatte Helmut Kohl der Türkei mehrfach eine europäische Perspektive angeboten, ohne sich auf einen genauen Zeitrahmen festzulegen, so sie sind heute aus Unionskreisen ganz andere Töne zu vernehmen. Das Land an der Schnittstelle zwischen Ost und West gehöre nicht zum europäischen Kulturkreis und nicht in "die Wertegemeinschaft" der EU. Die Türkei würde den Erweiterungsrahmen sprengen und die Organisation ad absurdum führen, heißt es plötzlich.
Die CDU-Vorsitzende Merkel hatte der Türkei zumindest im sicherheitspolitischen Bereich Zugeständnisse gemacht. Das Land am Bosporus müsse wegen seiner sicherheitsstrategischen Bedeutung "in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mitarbeiten - auch ohne Vollmitgliedschaft". Diese "Politik des Augenmaßes", wie sie es nannte, sehe außerdem eine umfassende Freihandelszone mit der Europäischen Union vor, aber keine Einbeziehung in die kostenintensive europäische Agrarpolitik.
Unions-Fraktionsvize Wolfgang Schäuble geht noch einen Schritt weiter und spricht von einer geostrategischen Überdehnung. Die politische Kehrtwende, die CDU und CSU eingeleitet haben, wird mit hochtrabenden Begriffen verbrämt. Kürzlich warnten CDU-Politiker im Zusammenhang mit den blutigen Anschlägen von Istanbul davor, ein Beitritt der Türkei zur EU könne das Terrorproblem nach Europa tragen, obwoh nicht feststand, von wem der Terror ausgegangen war.
Obwohl auch die Union in der Vergangenheit wiederholt eine Öffnung des islamisch geprägten Landes gefordert und damit im Gegenzug in Ankara konkrete Erwartungen geweckt hatte, nämlich den EU-Beitritt, wendet sie sich nun von der Türkei ab. Die Zug um Zug und gegen große innenpolitische Widerstände verwirklichten Reformen, wie die Abschaffung der Todesstrafe und die Liberalisierung der türkischen Rechtsprechung, werden nicht honoriert. Ganz im Gegenteil: Sie will den möglichen EU-Beitritt der Türkei zu einem wichtigen Thema im Europa-Wahlkampf machen. Landesgruppenchef Michael Glos und Wolfgang Schäuble versicherten jedoch, die Union werde mit dem Thema Türkei vor der Wahl am 13. Juni verantwortungsvoll und "ohne Fremdenfeindlichkeit" umgehen. CSU-Politiker Glos bringt die Türkei heute schon in die innenpolitische Auseinandersetzung ein, wenn er dem Bundeskanzler vorwirft, ihre Vollmitgliedschaft nur zu wollen, weil er auf die Stimmen der 500.000 türkischstämmigen Wähler zähle. Insgesamt leben in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen türkischer Herkunft. Schäuble plädiert dafür, in den Verhandlungen mit Ankara, die 2005 beginnen könnten, nicht nur über den Wunsch nach Vollmitgliedschaft zu sprechen, sondern auch über eine privilegierte Partnerschaft. Die Antwort, wie dieser nicht näher definierte Vorschlag ausgefüllt werden sollt, bleibt er schuldig. Die Türkei ist auf eine Mitgliedschaft orientiert, wie sie der Kanzler zugesagt hat. Der "dritte Weg" einer privilegierten Partnerschaft gilt in der Regierungspartei AKP als inakzeptabel.
Ob die SPD gleichsam wie von selbst auf die türkischstämmigen Wähler bauen könnte, ist dabei keineswegs sicher. Das Zentrum für Türkeistudien in Essen hat in einer Untersuchung herausgefunden, dass über 80 Prozent der Türken in Deutschland sich viel mehr eigenständige Parteien türkischer Einwanderer wünschten, um bei Wahlen ihren eigenen Interessen Nachdruck verleihen zu können. Infratest dimap hat herausgefunden, dass 58 Prozent der deutschen Bevölkerung es begrüßen würden, wenn die Türkei "mittel- bis langfristig" in die Europäische Union aufgenommen würde. 35 Prozent lehnen einen Beitritt ab, sieben Prozent sind unentschlossen.
Bei diesem Meinungsbild ist der Unterschied zwischen den einzelnen Parteien nicht groß. Werden die Befragten allerdings vor die Alternative gestellt, ob sie für eine Vollmitgliedschaft der Türkei sind oder für eine, von CDU-Politikern favorisierte privilegierte Partnerschaft, dann kehrt sich das Meinungsbild nahezu um: 57 Prozent sprechen sich nach einer Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien für eine privilegierte Partnerschaft aus, 33 Prozent für die EU-Vollmitgliedschaft. Nicht nur Europa hat Fragen an die Türkei, auch umgekehrt muss sich die EU fragen lassen, ob sie die Reformanstrengungen der Regierung Erdogan honoriert. Wenn nicht, könnten Kräfte gestärkt werden, denen die ganze Richtung nicht passt. Zu ihnen gehören nicht nur islamistische und rechtsradikale Parteien, sondern auch Teile des Militärs.
Besonders deutlich wird dies am Beispiel Zypern. Die Armee wehrt sich gegen zu große Zugeständnisse bei der Aufnahme der geteilten Insel in die EU. Und der 1. Mai, rückt immer näher. General Hursit Tolon, der die westtürkische, für den Ägäis-Raum zuständige Armee befehligt, spricht von Hochverrätern, die Zypern an Europa verkaufen wollen. Rund 250 Millionen Euro will die EU in den nächsten beiden Jahren in das türkische Gebiet Zyperns pumpen, um einer der ärmsten Regionen Europas zu helfen. Die Lösung der Zypernfrage noch vor der EU-Erweiterung, so der Kanzler, wäre "ein zusätzlich positives Signal" für die Annäherung der Türkei an Europa.