Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl hat den ersten Band seiner Erinnerungen vorgelegt - der zweite soll im kommenden Jahr folgen
Helmut Kohl nimmt Maß an Bismarck und Adenauer, ohne dass er es ausdrücklich schreibt. Aber es kann kein Zufall sein, dass er den ersten Band seiner die Jahre 1930 (Geburt) bis 1982 (erste Wahl zum Bundeskanzler) umfassenden Memoiren "Erinnerungen" nennt. Er knüpft damit an den Titel des Lebensbuches von Konrad Adenauer an, das dieser in seinem Arbeitszimmer im Bonner Bundesrat und dem lichten Glasgehäuse in Rhöndorf mit dem Blick auf das Rheintal geschrieben hatte.
Kohl diktierte in Oggersheim im Souterrain-Gehäuse. Ein Bild, das durch eine hintersinnige Interpretation von Frank Schirrmacher überhöht wurde. Aber vielleicht passt es zu beiden - Adenauer mehr aus dem Überblick heraus, Kohl "von unten", auch aus dem Instinkt, schreibend.
Er arbeitete im früheren Spielzimmer seiner Kinder, angesichts eines Karrussell-Pferdes, das seine verstorbene Frau Hannelore als Vorsitzende der ZNS-Stiftung mehrfach zu deren Gunsten versteigert hatte und jedesmal wieder zurückerhielt, um damit weiterhin Gutes zu bewirken. Ohne "ihren Herzenswunsch" hätte Kohl nicht geschrieben, wie er dankbar bei der Präsentation des Buches im Berliner "Hilton" sagte.
Miturheber, nicht nur des Titels, sind aber sicher auch die "Gedanken und Erinnerungen" des eisernen Reichskanzlers Bismarck, der sein Werk so gewidmet hatte: "Den Söhnen und Enkeln zum Verständnis der Vergangenheit und zur Lehre für die Zukunft."
Genau das will Kohl erreichen. Bewusst-unbewusst knüpft er somit an die beiden Politiker an, mit denen er sich angesichts der geschichtlichen Veränderungen, die er bewirkte, trotz seiner Sündenfälle messen kann und will. Denn Helmut Kohl ist und bleibt der Bundeskanzler der deutschen Einheit und der europäischen Einigung, was unterdessen auch in anderen Parteien so gesehen wird. Über die Wiedervereinigung wird er im zweiten Band ausführlich schreiben und dabei sicher nicht mit Kritik an den "Enkeln" Willy Brandts sparen, weil diese nach seiner Überzeugung entweder - wie Lafontaine - gegen die Einheit waren oder sie - wie Schröder - "verschlafen" oder im Bundesrat gegen sie gestimmt hatten.
Sicher wird er dabei aber auch nicht verschweigen, dass Willy Brandt ihm emotional und tatsächlich geholfen hat; nicht nur mit dem geflügelten Wort: "Nun wächst zusammen, was zusammengehört". Da Kohl das "alte Schlachtross" geblieben ist, hat er in der Hitze des Gefechts Bundestagspräsident Wolfgang Thierse angegriffen - mutmaßlich ohne ihn zu meinen.
Wahrscheinlich hat Kohl an die Ministerpräsidenten wie Lafontaine oder Schröder gedacht, als er bei der Präsentation des Buches in Berlin von sozialdemokratischen "Parlamentspräsidenten oder so was" redete, die niemals die Einheit Deutschlands gewollt hätten. Daraufhin schrieb Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 8. März in einem Brief an den früheren Bundeskanzler, Kohl möge dies künftig nicht wiederholen: "Auch zu der Zeit, als ich das Amt des Bundestagspräsidenten noch nicht bekleiden und übrigens auch keine öffentliche Rede über meine Überzeugungen halten konnte, habe ich immer schon und gelegentlich sogar sehnsuchtsvoll auf die deutsche Einheit gesetzt."
Thierse zitiert als Beleg seine erste Rede als Parlamentarier der frei gewählten Volkskammer der DDR am 18. April 1990: "Die SPD hat sich in der Koalitionsvereinbarung zum Artikel 23 des Grundgesetzes als dem realistischen Weg zur deutschen Einheit bekannt (Beifall, besonders bei der CDU). Wir begrüßen die entsprechende Aussage in der Regierungserklärung. Das mag manchem befremdlich erscheinen (Zuruf von der PDS: Ja!)". Thierse vermutet, dass Kohl ihn angegriffen haben könnte, weil er die Sanktion wegen der Verletzung des Parteiengesetzes nicht habe verwinden können.
Über diese Spendenaffäre will er im zweiten Band, der bis zu seinem 75. Geburtstag am 3. April 2005 fertiggeschrieben sein soll, berichten. Die Spender wird er auch da nicht nennen; "dazu habe ich alles gesagt". Es ist "kein Werk der Rache", eher der Rechtfertigung - wie angesichts des Todes seines Freundes Hanns-Martin Schleyer -, aber auch des Rechthabenwollens. Wobei der Politiker und Zeitzeuge einräumt, dass er die Epoche "mit meiner Brille" schildert. Er will "Geschichtsfälschern, die auf breiter Front unterwegs sind", entgegentreten. Wenn er manche andere Memoiren lese, frage er sich: "Habe ich damals überhaupt gelebt? Das war doch völlig anders, ich war doch dabei."
Helmut Kohl ist zwar milder geworden, aber noch kann er auf Seitenhiebe nicht verzichten. So schreibt er über Richard von Weizsäcker (den er beim ersten Anlauf 1969 noch vergeblich als Bundespräsidenten-Kandidaten aufstellen wollte), nachdem er ihn 1979 schließlich als Regierenden Bürgermeister von Berlin durchgesetzt habe, kühler, als er es empfindet: "Seine Berufung nach Berlin war ein klassisches Beispiel für die Wirksamkeit einer Personalpolitik, die später von ihm und anderen oft als ‚System Kohl' geschmäht wurde."
Das umfangreiche Werk hat den Vorteil, dass man dank des Sach- und Personenregisters schnell die Helden und Antihelden dieses Lebens findet und dank der schwarz-weiß Fotos die Atmosphäre jener Jahre nachempfinden kann. Man begegnet Zeitgenossen, denen er, wie Hans-Dietrich Genscher, dankt; mit denen er konkurrierte und kooperierte, wie Rainer Barzel und Willy Brandt; die offiziell seine politischen Freunde, aber in Wirklichkeit damals seine stärksten Gegenspieler, wie Franz-Josef Strauß, waren.
Kohl ist sicher, dass die Lehren aus seinem erfolgreichen Kampf gegen die Trennung der Unionsfraktion durch den Kreuther Beschluss der CSU auch heute gelten. "Das war eine meiner wichtigsten Leistungen." "Der Satz: ‚Getrennt marschieren, aber vereint schlagen', ist eine Fama." Hätten sich CDU und CSU damals getrennt, wäre die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ganz anders, also negativ, verlaufen. Davon ist Kohl überzeugt, wie er bei der Vorstellung des Buches sagte.
Das Buch beginnt mit einem den Autor charakterisierenden Satz in der Ich-Form. Auch dies kann kein Zufall sein, da jeder machtbewusste Politiker auch Egozentriker ist oder, wie Willy Brandt in seinen Lebenserinnerungen "Links und frei" geschrieben hatte, sogar von Egomanie heimgesucht wird. Kohls erstem Satz und vielen anderen merkt man die mündliche Rede an, aus der ein schriftlicher Text wurde: "Ich bin ein klassisches Beispiel dafür, welchen Einfluss das Elternhaus hat." Aber gerade dieser Teil 1 "Wurzeln und Prägungen" (1930 - 59) ist lesenswert, wenn man verstehen will, warum dieser Politiker den Krieg verabscheut, in dem er seinen Bruder Walter verlor, und deshalb die europäische Einigung vor allem als Friedenswerk begreift und vorangetrieben hat. "Heimat Europa" ist für ihn kein Klischee.
Der zweite Teil zeigt den Landespolitiker in Rheinland-Pfalz (1959 - 69); Teil 3 die Zeit als Ministerpräsident in Mainz (1969 - 76), in der er zum Bundesvorsitzenden und Kanzlerkandidaten der CDU aufstieg, aber die Wahl von 1976 knapp verlor, die er nach englischem Wahlrecht gewonnen hätte. Der Band schließt mit der Zeit von 1976 - 82, als er Oppositionsführer in Bonn war und Bundeskanzler wurde.
Die ganze Spannung und die Widersprüche dieser Phase werden allein schon in Kapitel-Überschriften deutlich, mit denen sich Kohl wie ein Journalist äußert: Als Wahlsieger in der Opposition. Der Kreuther Trennungsbeschluss. Kampf um die Einheit. Verletzungen. Heimtückische RAF-Morde. Auf Leben und Tod. Standfestigkeit statt Schlingerkurs. Aufbruch aus der Opposition. Kampfansage. Gekämpft und doch verloren. Der Herausforderer. Schmidt oder Strauß. Rückschlag. Verheerende Niederlage. Keine Resignation. Neuer Elan. Berliner Berufung. Symbol der Unmenschlichkeit. Kraftvoll gegen den Zeitgeist. Sommer der Überraschungen. Schlag auf Schlag. Weichenstellung. Die Wende. Mit der Wende meint er übrigens nicht die friedliche Revolution in der DDR, sondern sein - mit Hilfe der FDP und vor allem Genschers - gelungenes Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt am 1. Oktober 1982. Mit einem Dank an Genscher endet dieses Buch.
Hätte er 1976 nicht den sicheren Sitz in Mainz mit dem harten Stuhl im Bonner Bundeshaus getauscht, wäre er nie zum Bundeskanzler gewählt worden. Es waren Jahre, in denen er sich nicht nur gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt zu behaupten hatte, sondern sich gegen Franz-Josef Strauß durchsetzen musste. Heute sieht Kohl diesen Konflikt versöhnlich. Die sich wirklich mit dem "großartigen Politiker" auseinandersetzen mussten, wie er oder der CSU-Politiker Theo Waigel, sprächen heute viel freundlicher über Strauß als mancher seiner damaligen Gefolgsleute.
Helmut Kohl ärgert sich mutmaßlich noch heute darüber, dass sein Vorgänger Helmut Schmidt ihn unterschätzt hat. Schmidt allerdings hörte spätestens damit auf, vom "tönenden Nichts aus Mainz" zu sprechen, als der Kanzlerkandidat Helmut Kohl schon bei der Bundestagswahl von 1976 sein Wahlziel gegen Helmut Schmidt nur knapp verfehlt hatte. Damals warnte zum Beispiel der spätere SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel als Bundesjustizminister seinen Bundeskanzler vor der Unterschätzung des Mainzers.
Helmut Schmidt urteilt in seinen jüngsten Interviews längst gerecht über Helmut Kohl; und Helmut Kohl könnte in seinem zweiten Band noch vorurteilsfreier als im ersten über sein Glück schreiben, dass er ernten konnte, was andere Bundeskanzler vor ihm gesät haben. Denn die Wiedervereinigung, die Helmut Kohl erreichte, beruht nicht nur auf dem Freiheitswillen der Menschen in der DDR während des Herbstes 1989, dem Perestroika-Wandel in der Sowjetunion, der Hilfe der Ungarn und des polnischen Papstes und dem Willen der amerikanischen Führung - im Gegensatz zur Ablehnung Thatchers und dem Zögern Mitterands angesichts der kommenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten.
Die Wiedervereinigung ist auch das Ergebnis eines glücklichen dialektischen Zusammenhangs zwischen Helmut Kohls Politik und der seiner Vorgänger. Ihm gelang in der Tat die Synthese zwischen den anfänglichen Antithesen der deutschen Politik, der festen Verankerung der Bundesrepublik Deutschland im Westen durch Konrad Adenauer und der am Anfang von der Union heftig abgelehnten Ostpolitik Willy Brandts.
Helmut Kohl kam aber auch die Standfestigkeit Helmut Schmidts zugute. Ohne den von Helmut Schmidt und ihm durchgesetzten NATO-Doppelbeschluss durch Nachrüstung des Westens der Überrüstung der Sowjetunion zu begegnen und damit den Wandel in der Sowjetunion und schließlich deren Ende als Diktatur herbeizuführen, hätte es die Einheit in Frieden und Freiheit jedenfalls nicht geben können. In diesem Sinn steht Helmut Kohl auf den Schultern seiner Vorgänger.
Er hofft, mit seinem Lebensbuch - vor allem dessen zweitem Teil - Vorurteilen gegen ihn entgegenzutreten, indem er "aus dem Zusammenhang gelöste Schlagworte" wie die von den "blühenden Landschaften" in der ehemaligen DDR oder der "Gnade der späten Geburt" in ihren "wirklichen Kontext" stellen will.
Ob es wirklich das "Opus magnum" ist, das große Werk Helmut Kohls, als das es der Verlag anpreist, wird man erst nach dem kommenden abschließenden Band beurteilen können. Auf jeden Fall aber lohnt es die Lektüre, weil die Subjektivität eines Autobiographen zu einer objektiven Würdigung durch Historiker und Politologen erheblich beitragen kann. Es ist ein lesbares Buch und spricht sicher nicht nur Fachleute oder Kohls Zeitgenossen an.
Helmut Kohl
Erinnerungen 1930 - 1982.
Droemer Verlag. München 2004; 684 S., 28,- Euro
Helmut Herles war langjähriger Parlamentskorrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Bonn und ist jetzt Chefkorrespondent des Bonner "General-Anzeiger" mit Büros in Bonn und Berlin.