Wie die DDR mit dem westdeutschen Medienwesen konkurrieren wollte
Sowohl Ulbricht als auch dem Chefideologen Albert Norden war klar, dass die dazu notwendige aktive Unterstützung der Menschen nur durch ein weniger gegängeltes, glaubwürdigeres mediales System erfolgen konnte. Die Vorstellungen liefen darauf hinaus, dass empirische und wissenschaftliche Erkenntnisse einen höheren Rang gegenüber der vorgefassten Ideologie erhalten sollten, die die Medien quasi lückenlos dominierte.
Direkt vom Politbüro wurden im Bereich Presse zwei Pilotprojekte in Auftrag gegeben: 1963 die Transformation der "Neuen Berliner Illustrierten" (NBI) in eine Art ostdeutschen "Stern" und 1964 die Entwicklung eines neuen Nachrichtenmagazins namens "Profil", das dem westdeutschen "Spiegel" Konkurrenz machen sollte.
Auf solche Aufgaben waren die Redaktionen und Journalisten nicht vorbereitet. Mit der Entwicklung der beiden Projekte wurde Hans Otten beauftragt, Chefredakteur der NBI, der hoffte, seinen Träumen eines sich demokratisierenden Sozialismus näher zu kommen. Ihm beigesellt war der Schweizer Journalist Jean Villain, der schon etliche Jahre internationale Themen für die "Weltbühne" bearbeitet hatte. Villain sah die Gelegenheit, in der DDR eine Reportageliteratur in der Tradition Egon Erwin Kischs zu entwickeln, die in der Lage sein müsste, reale Fakten einschließlich Widersprüchen spannungsvoll aufzugreifen.
Villain wurde mit der Aufgabe betraut, mit einem Reporterkurs Personal für das Vorhaben heranzubilden. Es meldeten sich junge Leute, die sich bald einen Namen machen sollten, darunter bis heute bekannte wie Anne Dessau, Klaus Schlesinger und Landolf Scherzer. Schon während des zweijährigen Kurses druckte die NBI mehr als ein Dutzend genau recherchierte Reportagen der Teilnehmer.
Doch obwohl die beiden Projekte von allerhöchster Stelle bestellt worden waren, wurde sofort Sand ins Getriebe geworfen. Der "private" Brief eines - Otten völlig unbekannten - sowjetischen "Freundes" der NBI, der ihm im Sommer 1963 über offizielle Instanzen, aber informell zugespielt wurde, mutet wie eine Hollywood-Phantasie über Ränke im Sowjetreich an. Ein Konstantin Golinjak, Jahrgang 1922, kritisierte, dass die NBI "charmante junge Mädchen, Blumen und Tiere in Farbdruck auf dem Umschlag" präsentiere, anstatt sich auf den Kampf gegen den Faschismus zu konzentrieren, der, versteckt hinter dem westdeutschen "Wirtschaftswunder", erneut "seine blutigen Krallen nach den Menschen" ausstrecke.
Wenig später traf auch eine Kritik aus der "Agitationskommission beim Politbüro" ein, in der es hieß, dass die NBI neuerdings anstatt enthusiastisch, zu wenig und vor allem zu "trocken" über das Wirtschaftsgeschehen der DDR informiere. "Textjournalisten" und "Bildberichterstatter" hätten in der DDR keine andere Aufgabe als "das Wort und die Politik der Partei" zu verfechten.
Trotz der Warnschüsse wurden die Projekte offziell nicht abgebrochen. Sie überlebten auch den Sturz Chrustschows und die Machtübernahme Breschnews, die das "Tauwetter" des Sozialismus beendete. Die 1.800 Exemplare der Pilotnummer von "Profil" (68 Seiten), die an ausgewählte Funktionsträger zur Begutachtung verschickt wurden, blieben jedoch ohne Antwortkommentar ihrer Auftraggeber.
Während diese sich bereits vor ihren neuen Moskauer Herren duckten, mussten die Aktivisten sehen, wie sie mit der kafkaesken Situation permanenten Mobbings untergeordneter Parteiinstanzen fertig wurden. Unter denen, die sich am meisten engagiert hatten, kam es zu Krankheit und Tod. Es erwischte Otten selbst und Villains Lebensgefährtin Mette Lüning, die maßgeblich an der Organisation des Reporterkurses beteiligt gewesen war. Die Geschichte dieses bislang im Dunkeln gebliebenen Kapitels der DDR-Geschichte wurde von Villain anhand eigenen Archivmaterials in Form einer äußerst spannenden Reportage verfasst. Außer Werbematerial konnte er allerdings von der Nullnummer "Profil" nichts präsentieren. Die 1.800 Exemplare sind spurlos verschwunden.
Jean Villain
"Bitte nicht stürzen!"
MV Taschenbuch, Rostock, 2004; 124 S., 8,70 Euro
Ingrid Pietrzynski
Der Rundfunk ist die Stimme der Republik.
Bertolt Brecht und der Rundfunk der DDR 1949 - 1956.
trafoverlag, Berlin 2003; 339 S., 35,80 Euro
Sabine Kebir ist unseren Lesern längst sowohl aus ausgewiesene Orientexpertin als auch Kennerin der DDR-Kultur bekannt.