Das neue EU-Mitglied Slowakei komprimiert ethnische und kulturelle Vielfalt zu unverkennbarer Eigenart
Brücke der Völker, hört man an Festtagen. Aber Sonntagsreden in dieser Region sind niemals flockig und luftig. Jedes Wort wird belauert von Geschichte, die anderswo gemacht wurde. Aber nähern wir uns diesem Land zunächst mit den Augen und sehen: Es ist ein schönes, ein vielfältiges Land. Wir sind überrascht, denn vieles wirkt irgendwie vertraut. In der Altstadt von Bratislava/Pressburg/Pozsony erinnern viele Gebäude an Wien oder Budapest; auch andere Städte vermitteln etwas von jenem architektonischen Charakter, den man, sehr unscharf, den "kakanischen" bezeichnen möchte.
Das Habsburger Reich war über lange Zeit stilbildend bei Repräsentativbauten. Das sieht man einer östlichen Stadt wie Ko¨ice/Kaschau/Kassa ebenso an wie ´ilina/Sillein/Zsolna. Daran mögen auch reichlich deutsche Hände mitgewirkt haben, denn das Land im Karpatenbogen zwischen Moráva/March und Tisza/Theiß hatte nicht nur eine Brückenfunktion, sondern wurde auch vielen Menschen zur neuen Heimat. Menschen mit deutscher Zunge waren hier Jahrhunderte lang keine Ausländer.
Dieses Land mit einem recht jungen Namen, - das Land, das doch durch den Gebirgszug im Norden eine scheinbar so klar gezogene Grenze hat und dessen Strukturen so schwierig sind. Es ist ein erstaunliches Land, und es ist begeisternd, was seine Menschen in den Jahren seit der Wende zu Wege gebracht haben. Denn in den Neunzigern, als die Slowakei überhaupt erst als souveräner Staat auf der Landkarte auftauchte, hatte sie keine gute Presse. Ein populistischer Vladimir Meciar mit seiner nationalistischen Bewegung schien die junge Demokratie zu erdrücken.
Seitens der EU wurde die Slowakei als politisches Schmuddelkind unter den Beitrittswilligen betrachtet. Es stimmt freilich, die Trennung von Tschechien wurde in erster Linie von den Nationalisten forciert, wobei die tschechische Seite damals im Westen das eindeutig bessere Ansehen genoss; Václav Klaus verstand es, seinem Nationalismus das Mäntelchen eines liberalen Weltbürgertums umzuhängen.
Zuvor hatte es erst ein Mal eine rein formal unabhängige Slowakei gegeben: Als Nazideutschland im März 1939 die Tschechoslowakei überfallen hatte, gestand es seinem slowakischen Sympathisanten eine begrenzte Unabhängigkeit zu. Dabei fiel ein Teil des Territoriums an Ungarn, darunter die östliche Metropole Ko¨ice. Die Regierung der "Pfaffenrepublik" und die Militärleitung erhielten deutsche Berater beigestellt. Ein Staat von Hitlers Gnaden.
All die Jahrhunderte zuvor gab es dieses Land, aber keine "Slowakei". Als Staat ist sie unglaublich jung, ein lausbubenhaft junger Staat - auf historisch uraltem Boden. Und auf was für einem Boden! Es gehört zu jenem Mitteleuropa, über dessen Debatte in den Siebzigern und Achtzigern man im Westen oft die Nase gerümpft oder die Achsel gelupft hat. Milan Kundera, György Konrád, Václav Havel, Milan ¦imecka, Adam Michnik, Danilo Ki¨ gehörten zu den Visionären, die über das geteilte Europa hinausdachten. Sie wollten im Sowjetkommunismus schon damals nur ein Intermezzo für diesen an kulturellen Traditionen so reichen "Subkontinent" sehen. Das war nicht so selbstverständlich, wie es heute erscheint.
Seit Urzeiten ist diese Region ein Durchzugsland. Man muss sich nur einmal das Flusssystem vor Augen führen. Im Süden grenzt die Donau - eine historische Wanderroute ohnegleichen. Wandert man die March aufwärts, die die heutige Westgrenze bildet, gelangt man über eine niedrige Schwelle in Mähren zur Oder: eine alte Fernhandelsstraße. Entlang des Váh/Waag zieht eine weitere Route unter der Tatra hoch, ein recht leicht passierbarer Sattel, dann die beiden Möglichkeiten: nach Norden den Dunajec hinunter zur Weichsel, nach Osten weiter bis zum Oberlauf der Tisza/Theiß. Der Hron, ein weiterer Nebenfluss der Donau, knickt früher nach Osten ab, verläuft südlicher, parallel zum Váh.
So bergig, ja gebirgig das Land in seinem Mittelteil wird, überall zeichnen sich Wege und Verbindungen ab in alle Himmelsrichtungen. Das Bergland, immerhin fast 3.000 Meter hoch, ist keine Barriere, sondern Region der Durchgänge und der Übergänge. Sie sind wahrscheinlich die Grundlage dessen, was, bei aller Vielfalt, bisher das Verbindende, die Verbindlichkeit des Landes ausgemacht hat.
Denn es handelt sich nicht einfach um "einen Raum". Es sind kleinräumige, miteinander verbundene Landschaften mit höchst unterschiedlichen Siedlungsschichten und -geschichten. Jeder Versuch, hieraus eine Einheitsgeschichte zu basteln, eine stringente Besiedlungsgeschichte, gar eine Nationalgeschichte, muss scheitern. Die ethnische und sprachliche Mannigfaltigkeit auf dem Boden der heutigen Slowakei ist über die Jahrhunderte gewachsen. Es ist eine Region der Brüche und Verwerfungen, aber auch eine "Kreuzung der Kulturen", wie eine von vielen slowakischen Autoren verwendete Metapher lautet.
Was nutzt es, ein sagenhaftes "Großmährisches Reich", das Reich des Fernhändlers Samo im 7. Jahrhundert, als erste slowakische Staatsgründung auszudeuten? Nichts blieb davon als ein paar Funde und ein Mythos. Was nutzt es, die gescheiterten Versuche der Slawenapostel Kyrill und Method als Beleg einer frühen eigenständigen Kirchenblüte hervorzuheben? "Großmähren" wurde 906 zwischen dem Frankenreich und den landnehmenden Magyaren zerrieben, deren König Stephan die lateinische Liturgie der römischen Kirche durchsetzte.
Während der ungarischen Herrschaft wurde die Region unter den Karpaten "Felvidék" genannt, was auf Deutsch einfach "Oberland" heißt, und Oberungarn blieb es bis 1918, immerhin tausend Jahre. Wechselvolle Zeiten, wechselnde Herrscher, wechselnde Grenzen. Lange Zeit war Pressburg Krönungsstadt der ungarischen Könige. Oberungarn war während der Türkenherrschaft der Rückzugsraum des ungarischen Adels, die Silber- und Erzminen im Hauerland bildeten das materielle Rückgrat der ungarischen Magnaten.
Der Name "Slowakei" kam erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als die slowakische Nationalbewegung auf den Plan trat, als die Slowaken ihre eigene Sprache kodifizierten und in der Revolution von 1848 ihre eigene Stimme erhoben. Wer aber hatte sich inzwischen alles niedergelassen in diesem Land, das etwa so groß wie Hessen ist!
Von neolithischen Ausgrabungen, die uns eine bronzene Venus von Puchov beschert haben, gebrannt rund 35.000 Jahre vor Christus, bis zu keltischen Wällen reicht ein weiter Bogen von alten Besiedlungsspuren. Eine Reihe weiterer Völker, darunter Kimbern, Quaden, Römer, Awaren und Gepiden, hinterließen ihre Zeichen, bevor es zu einer dauerhaften Besiedlung im 7. Jahrhundert durch slawische Stämme kam.
Im 9. Jahrhundert erreichten, vom mittleren Ural kommend, die schließlich staatsgründenden Magyaren den pannonischen Raum. Aus dem 11. Jahrhundert stammen Belege der ersten jüdischen Ansiedlungen, in Liptovský Mikulᨠsteht, renoviert, eine der größten Synagogen Mitteleuropas. Dazwischen liegt eine wechselvolle Geschichte mit ihrem absoluten Tiefpunkt, als eine slowakische Regierung nach Nazi-Vorbild Judengesetze erließ und schließlich, wie Ladislav Lipscher in seiner Studie "Die Juden im Slowakischen Staat 1939 - 1945" aufzeigt, aus eigenen Stücken den Großteil der jüdischen Bevölkerung, rund 65.000 Menschen, nach Nazideutschland deportieren ließ.
Seit dem 12. Jahrhundert kamen in mehreren Wellen deutsche Siedler als Bauern, als Handwerker, als Bergleute in die Zips und in die Bergbaugegenden. Ulm und seine "Ulmer Schachteln" waren bekannt als Abfahrtort und Transportmittel. Ungarns Urbanisierung wäre ohne deutsche Immigration undenkbar gewesen. Zu den Einwanderern aus Sachsen gehörte auch die Familie der Bachs, die sich vermutlich erst im Bergbau versuchte, bevor sie nach Pressburg ging. Johann Sebastians Großvater war es dann, der wieder nach Thüringen zurückkehrte.
Allerdings ist das deutsche Element heute weitgehend verschwunden, nachdem das Terrorregime der Nazis Europa mit Krieg und Vernichtung überzogen hatte. Viele Tausende flüchteten noch während der Kriegshandlungen. Danach musste auch hier unter dem Eindruck der Naziverbrechen die Kollektivschuldthese zu ethnischen Säuberungen herhalten.
Im 14. Jahrhundert kamen schließlich Roma und Ruthenen, im 15. Jahrhundert im Gefolge der Hussitenkriege Tschechen und unter dem Druck der heranrückenden Osmanen einige Tausend kroatische Familien. Auch Herrschaftsverhältnisse und Religionsbekenntnisse wechselten in einzelnen Teilgebieten des Öfteren. Allein das 20. Jahrhundert hatte für diesen Fleck Erde an Staatsformen Monarchie, demokratische Republik, autoritären Staat, kommunistische Diktatur und zum versöhnlichen Ausklang wieder die Demokratie parat. Schwerlich lässt sich wohl über dieses Land in Begriffen der politischen, religiösen oder kulturellen Homogenität sprechen.
Seit es den neuen Staat, die Slowakische Republik, gibt, ist eine Art permanenter Historikerstreit in Gange. Typisch Mitteleuropa, könnte man György Konrád beipflichten, der auf das für diese Region so charakteristische Kreuz mit der Geschichte hinweist, dass "wir Mitteleuropäer uns viel häufiger auf die Vergangenheit berufen als, sagen wir, Amerikaner. Wir kämpfen mit Jahrtausenden, narkotisieren uns mit der Zeit. Hier kann kein Mensch Politiker werden, der sich nicht mit Geschichte brüsten kann."
Das ist aber nur die Grundierung. Gemeinsam mit den Nachbarn gilt es, sich von vier Jahrzehnten Gehirnwäsche im Sinne der kommunistischen Ideologie frei zu machen. Für den intensiven Geschichtsdiskurs in der Slowakei fallen außerdem noch besondere Faktoren ins Gewicht. Ihre Geschichte spielte sich bisher vor allem innerhalb zweier anderer staatlicher Rahmen ab, Ungarn und Tschechoslowakei.
Der Historiker Du¨an Kovác meint, die Geschichte der Slowakei ließe sich jedoch nicht mit der Geschichte Ungarns und nach 1918 mit der der Tschechoslowakei gleichsetzen. Andererseits dürfe sie auch nicht verengt werden zur Geschichte der slowakischen Nationalbewegung, denn: Soll man eine slowakische Geschichte schreiben oder eine Geschichte der Slowakei? Eine slowakische Geschichte müsste die Nichtslowaken ausgrenzen oder herabsetzen, würde verschweigen, dass in Banská ¦tiavnica der slowakische Dichter Andrej Sládkovic und der ungarische Dichter Sandor Petöfi zur Schule gingen; dass auch Sandor Marai aus der heutigen Slowakei stammt; dass Franz Liszt in Pressburg studierte und seine Karriere begann; dass Franz Schubert auf dem Schloss der Eszterházys bei ´eliezovce Jahre verbrachte und dort zum Beispiel "Die schöne Müllerin" schrieb.
Apropos ´eliezovce/Zselis: In diesem zweisprachigen Ort gibt es eine ulica Hviezdoslav, also eine nach dem slowakischen Nationaldichter benannte Gasse; sie geht direkt über in die utca Ady Endre, also die Endre-Ady-Gasse, benannt nach dem ungarischen Dichter. Es ist eine ruhige Nebenstraße, von Wohnhäusern mit Vorgärten flankiert, geradezu friedlich.
Dennoch taugt dieses Bild nicht als Metapher auf die Wirklichkeit: Sehr viele Angehörige der ungarischen Minderheit sprechen slowakisch, nur wenige Slowaken beherrschen das Ungarische. Dabei hat die Mehrsprachigkeit in diesem Land eine lange Tradition. Erinnert sei nur an den Kaschauer Kalender, 1674 in der Universitätsdruckerei von Ko¨ice/Kaschau/Kassa in Lateinisch, Deutsch, Ungarisch und Slowakisch gedruckt, oder an die Taxa Pharmaceutica Posoniensis von Ján Justus Torkos, 1745 in Pressburg/Pre¨porok/Pozsony (der Name Bratislava kam erst 1918 auf) in denselben Sprachen veröffentlicht.
Alte Städteverzeichnisse registrieren die Ortsnamen in mindestens zwei Sprachen. Zahlreiche Autoren betonen die Mehrsprachigkeit in weiten Kreisen der Bevölkerung - auf dem Tuchmarkt von Bardejov zum Beispiel konnten die Menschen, ob sie Slowakisch, Ungarisch, Deutsch, Polnisch oder Romanes sprachen, sich untereinander verständigen. Und das funktionierte wohl auf die Weise, dass die Sprecher oft im selben Satz von einer Sprache in die andere fielen; etwas, das man heute als code-switching bezeichnet.
Mit den verschiedenen Herrschaften, Ethnien und Sprachen haben sich auch ganz unterschiedliche Kulturelemente zusammen gefunden - vielleicht liegt darin der Ansatz zu einer Erklärung, was das Geheimnis, was den Charme dieses Landes ausmacht. Natürlich nur den Ansatz, denn das Geheimnis liegt immer bei den Menschen selbst. Sonst müsste man zu einem pessimistischen Ende kommen. Das 20. Jahrhundert hat tatsächlich mit seinen entsetzlichen Vorgängen vieles von dieser alten, historisch gewachsenen Vielfalt niedergewalzt. Und man könnte des Weiteren aufseufzen, und erst die Globalisierung.
Es stimmt, Bratislava ist in der schönen neuen Welt der Handys und des Internets angekommen: Reklamen von Nokia, Giorgio Armani, adidas, Sony, Microsoft - ob als digitales Wechselbild auf Großwerbeflächen, ob als Firmenlogo auf Krägen und Krawatten oder als Graffiti auf überfüllten Trolleybussen. Die pulsierende Hauptstadt steht für ein Land, das mit etwas Verzögerung den Weg nach Europa eingeschlagen und inzwischen erstaunliche Erfolge aufzuweisen hat.
Das alte Pressburg, ohnehin von realsozialistischen Bausünden durchkerbt, wird allmählich überwuchert von einer alles verfremdenden Rhapsodie aus Glas und Beton und Aluminium, von einer McMixtur aus Formen, Farben und Zeichen, verwechselbar mit der Baustelle Potsdamer Platz oder den neuen Banlieues von Paris. Houellebeqs Ausweitung der Kampfzone lässt sich auch als Metapher für die Osterweiterung der EU verstehen. Die Sprache, in der sich Slowaken und Minderheiten des Landes verständigen, ist dann eben die Sprache der Globalisierung, nämlich das Englische.
Und dennoch: Das Land ist unverkennbar die Slowakei, sein Geheimnis sind die Menschen, die über alle Brüche und Katastrophen hinweg an der Physiognomie dieser Region mitgestalten und ein ganz neues und unvergleichbares Element in die nun erweiterte Europäische Union einbringen.
Balduin Winter, Österreicher von Geburt, ist Redakteur der in Frankfurt am Main erscheinenden Monatsschrift "Kommune".